Franziskaner-Oberer zur Zukunft im Heiligen Land

"Solange wir den anderen Feind nennen, gibt es keine Lösung"

Der Krieg im Gazastreifen scheint seit Sonntag zumindest vorerst zu Ende. Kirchenvertreter im Heiligen Land mahnen aber eine langfristige Lösung an. Unter ihnen ist Kustos Pierbattista Pizzaballa, der oberste Franziskaner im Nahen Osten. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) betont er, dass der Weg zur Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern noch weit sei und ohne internationale Hilfe kaum zu schaffen.

Kustos Pierbattista Pizzaballa (KNA)
Kustos Pierbattista Pizzaballa / ( KNA )

KNA: Waffenruhe im Gazastreifen und internationale Bemühungen um eine stabilere Lösung - gibt das Grund zu Hoffnung, dass im Heiligen Land bessere Zeiten anbrechen?
Pizzaballa: Ich bin in den Jahren hier zu der Überzeugung gekommen, dass es im israelisch-palästinensischen Konflikt Probleme gibt, die man lösen kann, und andere, mit denen man leben muss. Natürlich hoffe ich, dass dramatische Situationen, wie wir sie in Gaza erlebt haben, nicht wieder vorkommen. Aber das Aufeinandertreffen der Interessen der beiden Völker auf engem Raum ist ein Grundsatzproblem, mit dem wir wohl auf lange Sicht leben müssen. Und auch mit den Spannungen, die damit verbunden sind.

KNA: Gibt es Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit es nicht immer wieder zu einer solchen Eskalation der Gewalt kommt?
Pizzaballa: Natürlich. Man wird an Grundlagen bauen müssen, die beiden Völkern gemeinsam sind. Vor allem muss das über die Erziehung der nächsten Generation geschehen: Jede Seite muss lernen, die Existenz des anderen anerkennen, und zwar nicht nur virtuell, sondern auch ganz praktisch. In diesem Punkt hat die Politik hier bislang ziemlich losgelöst von den Menschen agiert: Die Verantwortlichen haben sich zwar getroffen und miteinander geredet, aber es fehlt eine Anstrengung auf breiter Ebene, über die Medien, die Schulen, die Politik etc. eine Mentalität zu schaffen, die sagt: Wir müssen mit dem anderen sprechen. Das ist die Basis. Auf allen gesellschaftlichen Ebenen muss die Überzeugung herrschen, dass der andere ein Lebensrecht hat, selbst wenn ich ihn vielleicht nicht liebe. Und zwar ausgehend von dem gemeinsamen Menschsein: Noch bevor wir Israelis oder Palästinenser, Juden, Christen oder Muslime sind, sind wir ja Menschen.

KNA: Nach all dem, was hier schon geschehen ist, ist das sehr schwierig. Sitzt da das Bild des anderen als Feind nicht schon viel zu tief?
Pizzaballa: Es sitzt sehr tief, aber solange wir den anderen Feind nennen, egal ob er Israeli, Palästinenser, Hamas-Mitglied oder wer auch immer ist, so lange werden wir keine Lösung finden. Erst wenn der jeweils andere als Person wahrgenommen wird, kann man Voraussetzungen für eine Lösung schaffen. Allerdings wird das viel Zeit brauchen, und die internationale Staatengemeinschaft wird mithelfen müssen, die notwendigen Eckpfeiler zu schaffen. Sie wird Druck ausüben müssen, damit zunächst die beiden verfeindeten Palästinensergruppierungen wieder zusammenfinden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Palästinenser Israel wirklich anerkennen. Die israelische Gesellschaft wiederum wird eine große Anstrengung machen müssen, in den Palästinensern nicht nur potenzielle Terroristen zu sehen, sondern Menschen, die hier geboren sind - und die auch leben wollen.

KNA: Und wie sieht es mit Bemühungen um einen echten Staat Palästina aus, mit der Zwei-Staaten-Lösung, die immer wieder gefordert wird?
Pizzaballa: Natürlich ist das wünschenswert, aber wie es konkret zu verwirklichen sein soll, ist schwer zu erkennen. Ganz sicher würde es selbst bei einer Zwei-Staaten-Lösung immer Lebensbereiche geben, die sich überschneiden. Als Franziskaner maße ich mir nicht an zu erklären, wie die Zukunft dieser Region aussehen soll. Aber es wird sicher nicht so funktionieren, dass wir einen Staat hier und einen dort haben und das dann die Lösung aller Probleme sein soll. Dafür ist dieses Land zu klein. Wasser, Elektrizität, Verkehrsverbindungen, Warenverkehr: all das wird irgendwie geteilt und gemeinsam organisiert werden müssen. Das heißt, wir müssen in jedem Fall zu einer Zusammenarbeit kommen.

KNA: Arabische Kirchenvertreter fordern von Israel immer wieder, es müsse «Mut zum Frieden» haben. Es leuchtet ein, dass, solange Israel das Wohl des jüdischen Staates mit eiserner Faust sichert, die Palästinenser darunter leiden und mit Aggression reagieren. Aber kann das jüdische Volk das Risiko eingehen, diese eiserne Faust zu lockern?
Pizzaballa: Da ist tatsächlich ein Teufelskreis. Eine Ursache schafft die nächste, und es scheint, als komme man da nicht raus. Ehrlich gesagt, weiß ich die Lösung auch nicht. Es stimmt natürlich, dass man Mut für den Frieden braucht. Das ist ein schöner Slogan.

Wenn es dann jedoch konkret wird, ist es viel schwieriger.
Vermutlich geht es nicht ohne eine starke internationale Präsenz, die beiden Seiten hilft, sich sicher zu fühlen. Eines der Probleme Israels ist ja, dass es sich isoliert fühlt - und zwar nicht nur von der arabischen Welt, sondern oft auch vom Westen, mal abgesehen von den USA. Das verstärkt den Komplex, dass alle gegen Israel seien.

Man muss irgendwelche Formen finden, damit beide Seiten sich unterstützt und nicht verlassen fühlen.

KNA: Die Stimmung in vielen arabischen Ländern ist durch den Krieg im Gazastreifen stark angeheizt worden. Die Franziskanerkustodie ist auch in den umliegenden arabischen Ländern präsent. Sehen Sie die Gefahr einer weiteren Destabilisierung der ganzen Region?
Pizzaballa: Ich bin mir nicht sicher; der Nahe Osten ist voller Überraschungen. Es stimmt schon, dass die arabische Welt sehr erregt ist. Das zeigen auch die vereinzelten Vorfälle an den israelischen Grenzen. Gleichzeitig scheinen mir die Regierungen der betroffenen Länder keinerlei Interesse zu haben, sich in eine Lage hineinzumanövrieren, welche nicht nur die Region, sondern auch ihre eigenen Gesellschaften destabilisieren könnten.

KNA: Der israelisch-palästinensische Konflikt ist nun schon mehr als 60 Jahre alt, und eine wirkliche Lösung scheint nicht in Sicht. Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht, dass es doch eines Tages Frieden im Heiligen Land geben kann?
Pizzaballa: Mal abgesehen davon, dass wir als Christen immer Hoffnung haben, muss ich tatsächlich länger überlegen. Das einzige, was mir einfällt, sind die einfachen Leute, die beten und immer noch an die Vorsehung Gottes glauben. Die gibt es nicht nur unter Christen, sondern mindestens ebenso unter Juden und Muslimen. So sehr dieser Krieg die hässlichen Seiten des Menschen gezeigt hat. Es gibt auch noch diese Gerechten. Ich denke zum Beispiel an eine Israelin, eine überzeugte Jüdin. Sie kam während des Gaza-Krieges zu uns und sagte, sie wolle versuchen, einige Kinder aus dem Gazastreifen rauszubekommen. Ob wir sie dann in unseren Konventen unterbringen könnten, so wie während des Zweiten Weltkrieges ihre Familie in einem Kloster Zuflucht gefunden hatte. Das war vielleicht ein etwas naiver Gedanke - aber solche Stimmen machen mir Hoffnung.

Oder da ist das Interkulturelle Zentrum Jerusalem, wo Israelis und Palästinenser sich um Verständigung bemühen. Solche Beispiele fallen mir ein. Sie zeigen mir, dass es, wenn auch vereinzelt, Menschen gibt, die anders denken.