Der Direktor des Deutschen Menschenrechtsinstituts über Menschenrechte in Deutschland

"Die Würde des Menschen kann man nicht abstufen"

Die Bundesrepublik Deutschland feiert in diesem Jahr ihren 60. Geburtstag. Genauso lang gilt der erste Artikel des Grundgesetzes, der die Menschenwürde als unantastbar festschreibt. Die Katholische Nachrichten-Agentur hat mit dem Direktor des Deutschen Menschenrechtsinstituts, Heiner Bielefeldt, über die aktuelle Rolle der Menschenrechte in Deutschland im Spannungsfeld zwischen Forschung, Religion und Selbstbestimmung gesprochen.

Autor/in:
Christoph Scholz
 (DR)

KNA: Herr Bielefeldt, wie steht es im 60. Jahr der Gründung der Bundesrepublik um Schutz und Wahrung der Menschenwürde?
Bielefeldt: Ihr Status scheint auf den ersten Blick unangefochten.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings zunehmend Unsicherheit, was eigentlich unter Menschenwürde zu verstehen ist. Manche warnen vor einem inflationären Gebrauch des Begriffs, andere wiederum sehen die Unantastbarkeit der Menschenwürde in Frage gestellt - etwa im Umgang mit Behinderten, in der Bioethik und vor allem in der Debatte über das absolute Folterverbot.

KNA: Wo zeigen sich die Unsicherheiten konkret?
Bielefeldt: Unsicherheiten, aber auch Akzentverschiebungen im Verständnis der Menschenwürde zeigen sich bis in die Grundgesetzkommentierung hinein. Auch in der juristischen Fachliteratur kommen Stimmen zu Wort, wonach die Berufung auf die unantastbare Menschenwürde eine rationale Auseinandersetzung - etwa um die Bewertung der Embryonenforschung oder das Folterverbot - angeblich nur behindere.

KNA: Also ein neuer Positivismus?
Bielefeldt: Ich denke ja. Gerade weil der Begriff der Menschenwürde so viele Bedeutungsebenen anspricht, gibt es Versuche, die darauf abzielen, ihn gleichsam positivistisch, also rein fachjuristisch, einzuhegen.

KNA: Hängt dies auch mit dem historischen Abstand zur Schreckenserfahrung der NS-Zeit zusammen, auf die das Grundgesetz ja auch eine Antwort ist?
Bielefeldt: Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat mit Blick auf neuere, restriktivere Auslegungen der Menschenwürde sogar von einem Epochen-Bruch gesprochen. Wichtig wäre mir allerdings die Klarstellung, dass der hohe Stellenwert der Menschenwürde im Grundgesetz nicht als eine deutsche "Sonderbefindlichkeit" missverstanden werden darf, auch wenn die historische Erfahrung in Deutschland uns für Menschenrechte besonders sensibilisieren sollte.

KNA: Wie lässt sich die Menschenwürde in einer weltanschaulich und religiös pluralistischen Gesellschaft begründen?
Bielefeldt: Die Menschenwürde hat zunächst ihre eigene innere Plausibilität - auch unabhängig zum Beispiel von religiösen Vorstellungen. Wenn Menschen miteinander Verbindlichkeiten eingehen, etwa Verabredungen treffen oder gemeinsame Grundsätze aufstellen, dann setzt dies die wechselseitige Achtung der Menschenwürde voraus.
Dies hat den Stellenwert einer Prämisse für jede moralische oder rechtliche Verständigung, und zwar unabhängig von den verschiedenen religiösen oder auch nicht-religiösen Überzeugungen der Menschen.
Gleichzeitig ist die Idee der Menschenwürde für religiöse Vertiefungen oder Verankerungen offen, ja bietet sich dafür geradezu an.

KNA: Allerdings sind diese Verabredungen nicht unumstritten. Das gilt etwa für den Beginn menschlichen Lebens.
Bielefeldt: Verabredungen, wenn sie wirklich verbindlich sein sollen, setzen voraus, dass Menschen einander achten; denn dies ist die Grundlage aller Verbindlichkeiten. Diese Grundstruktur der wechselseitigen Achtung in der Menschenwürde darf nicht zu Lasten Dritter gehen, sondern muss letztlich alle Menschen einbeziehen.

KNA: Dennoch spricht man etwa beim Status des Embryos von einem abgestuften Würdeschutz.
Bielefeldt: Ich halte das für ganz problematisch. Wir können nicht von einer wachsenden oder abschmelzenden Menschenwürde sprechen.
Ebenso wenig können wir sie von bestimmten Vorleistungen abhängig machen. Andernfalls kommen wir in Teufels Küche. Wenn ich die Menschenwürde abstufe, dann verliert der Begriff der Würde seinen unbedingten Stellenwert.
Die Biographie eines Menschen schließt auch die vorgeburtliche Phase des Lebens ein. Dem vorgeburtlichen menschlichen Leben die Würde abzusprechen, hat daher auch Auswirkungen auf die Achtung der Menschenwürde der Geborenen.

KNA: Inzwischen wird das Recht auf Forschungsfreiheit ins Feld geführt.
Bielefeldt: Die Menschenwürde ist Voraussetzung aller Grund- und Menschenrechte und somit auch der Forschungsfreiheit, die man deshalb nicht gegen die Menschenwürde ausspielen kann. Dies schließt meiner Überzeugung nach dem Respekt vor dem vorgeburtlichen menschlichen Leben ein.

KNA: Wie steht es um die Euthanasie? Wird sich die Diskussion angesichts einer alternden Gesellschaft und steigender Gesundheitskosten verschärfen?
Bielefeldt: Diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Für mich wäre so etwas wie ein "Recht" auf Sterben nicht denkbar.
Menschenrechtliche Freiheit kann nicht Freiheit zur Auslöschung des Subjekts der Freiheit bedeuten. Damit möchte ich allerdings kein moralisches Verdikt über Menschen in auswegloser Lage sprechen, die aus Verzweiflung ihrem Leben ein Ende setzen. Da sollte man von moralisierenden Urteilen absehen und lieber schweigen. Aber ein "Recht" auf Euthanasie wäre für mich ein Unding.

KNA: Wie steht es um die Abtreibung. Bei amnesty international wurde debattiert, ob es darauf ein Menschenrecht gibt?
Bielefeldt: Amnesty international hat ein Menschenrecht auf Abtreibung im Ergebnis nicht befürwortet. Meiner Überzeugung nach kann es in der Tat kein Menschenrecht auf Abtreibung geben. Denn dies würde unterstellen, dass der Fötus keinen rechtlichen Status hat. Etwas ganz anderes ist es, wenn der Staat weitgehend von Strafdrohungen absieht, wie dies etwa in Deutschland der Fall ist.
Eine weitgehende Entkriminalisierung, die ich richtig finde, ist nicht dasselbe wie ein eigentliches "Recht" oder gar Menschenrecht auf Abtreibung. Es scheint mir wesentlich für das Selbstverständnis einer Rechtsgemeinschaft zu sein, an dieser Grunddifferenz festzuhalten.