Rabbiner und Bischöfe beim Auftakt zur Woche der Brüderlichkeit

"Die Habgier ist der Kern der Malaise"

Es wird ganz still, als der Mann vorn am Pult mit der Kippa auf dem Kopf und dem Gebetsschal um den Hals die Stimme erhebt. Mit scharfen Worten prangert der emeritierte Landesrabbiner Henry G. Brandt im Reimarussaal der Patriotischen Gesellschaft Hamburgs gesellschaftliche Missstände an. Er spricht davon, "dass es keine Grenzen gab", dass alles immer höher, schneller, besser, weiter sein musste: "Die Glaspaläste der Banken und Versicherungen sprossen wie Pilze aus dem Boden, die Kaufhäuser quollen über vor Waren aus aller Welt." Der "Kern der Malaise" sei die Habgier, "Gier nach Besitz, Macht, nach Ehre".

Autor/in:
Kristian Stemmler
 (DR)

Unter den rund 300 Zuhörern im Saal scheint mancher irritiert zu sein. Denn mit dem Thema des Abends haben die Worte des Landesrabbiners auf den ersten Blick gar nichts zu tun. Brandt spricht bei der Gemeinschaftsfeier zum Beginn der «Woche der Brüderlichkeit», die im Schatten des Streits um Holocaust-Leugner Richard Williamson vor allem eine Demonstration des guten Verhältnisses zwischen Christen und Juden im Lande sein soll.

Brandt ist der jüdische Vorsitzende des veranstaltenden Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (GCJZ). Deren bundesweite Veranstaltungswoche steht in diesem Jahr unter dem Leitwort «1949-2009: So viel Aufbruch war nie». Ebenfalls in Hamburg fand am Sonntag der zentrale Festakt zur Eröffnung statt, bei dem in diesem Jahr der Münsteraner katholische Theologe Erich Zenger mit der traditionell verliehenen Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet wurde.

Erst bei genauerem Hinsehen erschließt sich der Zusammenhang von Brandts Gesellschaftskritik mit dem Thema der Gemeinschaftsfeier. Angesichts der Krise sei es von zentraler Bedeutung, dass Christen und Juden gemeinsam, «die Werte verteidigen und bewahren, die wir hochhalten, dass wir wieder die Solidarität beschwören und der Gerechtigkeit das Wort reden». Der Gelehrte lenkt damit den Blick weg von der Konzentration auf einen interreligiösen Zwist hin zur eigentlichen Herausforderung für Christen und Juden: der gemeinsame Kampf gegen eine Verrohung der Gesellschaft im Zeichen der Krise.

An diesem Abend geht Brandt damit einen Schritt weiter als die christlichen Verantwortungsträger, die neben ihm in der ersten Reihe sitzen, Hamburgs Bischöfin Maria Jepsen und Erzbischof Werner Thissen. In ihrem Bekenntnis zur Geschwisterlichkeit mit den Juden lassen es beide aber nicht an Deutlichkeit fehlen. «Das Gift des Antisemitismus hat in der Kirche keinen Platz. Dies gilt für alle Formen des Antisemitismus, seien sie offen oder versteckt, subtil oder gewalttätig», ruft Thissen aus. Antisemitismus lege auch die Axt an die Wurzel des christlichen Glaubens: «Christen, welche Juden missachten, missachten sich selbst. Denn sie missachten ihre eigenen Wurzeln.»

Auch Jepsen bekennt sich in ihrer theologisch geprägten Ansprache zu den gemeinsamen Wurzeln. «Das Alte Testament ist ebenso wenig wie das alte Gottesvolk veraltet, überholt», sagt sie, «das Volk Israel ist nicht enterbt. Und jüdischer Glaube trägt nicht in sich Defizite in Beziehung zum christlichen, wie es in der Kirchengeschichte bis heute behauptet wurde und wird.»   

In der Apostelgeschichte sei zwar eine «Weggabelung» zu erkennen, eine Herauslösung und Abgrenzung der Christen vom jüdischen Glauben, so die Bischöfin. Doch «Mose, die Propheten und Psalmen, die heiligen Schriften Israels», sie würden ihre Gültigkeit für die Jünger Jesu behalten. Jepsen stellte klar: «Wer in der Kirche diese Glaubensaussagen ausblendet und sich über das Volk Israel und die jüdischen Geschwister damals und heute erhebt, verlässt den Grund unseres christlichen Glaubens.» Klare Worte der drei Religionsvertreter, die einen angemessenen Auftakt der Woche der Brüderlichkeit markieren.