Wissenschaftler erforscht das Reclam-Archiv

485 Aktenordner Geschichte

Vor Sigfried Lokatis türmen sich Bücher aus dem Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig. Lokatis forscht im Hinterhaus einer Leipziger Einkaufsstraße an der Geschichte des traditionsreichen Verlags, dessen Wege sich nach dem Zweiten Weltkrieg in ein Unternehmen West und einen Volkseigenen Betrieb Ost verzweigten.

Autor/in:
Robert Schimke
 (DR)

"Reclam Leipzig war schon etwas sehr Besonderes", sagte Lokatis. Wie war es möglich, fragt der Wissenschafter, dass der Verlag in der DDR als dekadent geltende Autoren veröffentlichen konnte und nach der Wende ins seichte Fach wechselte?

Aufschluss darüber erhofft sich Lokatis aus dem Studium von 485 Aktenordnern, voll von Gutachten, Dokumenten, Autorenkorrespondenz und Briefen der Behörde für Druckgenehmigungsverfahren, so das DDR-Wort für Zensur. Der Reclam-Verlag, der seit 1996 wieder ausschließlich in Ditzingen bei Stuttgart arbeitet, hat Lokatis die Verlagsakten aus der Zeit von 1945 bis zur Schließung des Leipziger Hauses zur Verfügung gestellt - auf Zeit. Drei Jahre lang sind die Dokumente wieder dort, wo sie Lokatis' Meinung nach hingehören: in der Buchstadt Leipzig.

Während der 52-Jährige durch das vollgestopfte Archiv führt, hämmert es in einem anderen Zimmer. Sylvia Kabelitz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Buchwissenschaft, baut Regale auf für all die Aktenordner und Bücher, die noch in Kartons verpackt sind. Wenig später hindert sie mit ein paar Holzlatten ein eng bepacktes Regal daran, in den Raum zu stürzen.

"Das müssen wir hier alles selbst machen", sagt die junge Frau zum physischen Teil der Arbeit: Bücher, deren Gewicht sich in Tonnen bemisst, laufende Meter mit abgehefteten Dokumenten, Autorenbriefe, Grafikentwürfe und Druckgenehmigungsverfahren, die Blatt für Blatt eingescannt werden müssen.

Dokumente digitalisieren
Zwei Studenten sind dafür abgestellt, die Dokumente zu digitalisieren. "Dann haben wir das Material wenigstens als Datei wieder hier. Hier in Leipzig und nicht in Stuttgart", sagt Kabelitz. Die meisten Verlage, die früher in Leipzig beheimatet waren und nach 1945 in den Westen zogen, haben ihre nach der Wende eröffneten Niederlassungen mittlerweile wieder geschlossen. Die Reclam-Akten, sagt Kabelitz, könnten vor diesem Hintergrund wie der "traurige Rest" der einst so glanzvollen Buchstadt erscheinen.

Lokatis indes steht erst am Anfang seiner Forschung. Von der Sorgfalt, mit der das Reclam-Archiv geführt wurde, ist er schon jetzt beeindruckt: "Unglaublich gut geordnet", sagt er. "Sie finden in nicht mehr als drei Akten sämtliche Anträge für die Zensurbehörde, mit allen zugehörigen Gutachten."

Nicht immer führen Verlage ihre Archive derart genau. Monika Estermann vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels sagt: "Wie die Verlage mit ihren Archiven umgehen, ist ihre eigene Angelegenheit." Sie berichtet von Archivbeständen, die komplett auf dem Müll gelandet sind. "Raumnot und Sorglosigkeit sind die wichtigsten Gründe für schlecht geführte Archive."

Umgeben von der Vollständigkeit der Reclam-Akten, ein ganzes Stück neben den bunten Einbänden neueren Datums mit Titeln wie "So toll kann doch kein Mann sein" oder "Champagner, News und Liebesträume", lässt sich Lokatis auf einem Hocker nieder: "Hier schauen Sie, Hofmannsthal neben Varnhagen und Rühmkorf. Diese Systematik, die nicht nach dem Markt geschielt hat. Man möchte