Tagespost

Das Radio ist längt nicht tot

Raum, den das Fernsehen durch leichtfertiges Aufgeben von Qualität verlässt, wird durch den Hörfunk neu ausgefüllt. Qualitätsradio gewinnt an Boden.

 (DR)

Es gab Zeiten, da wurde das Radio für tot erklärt. Angesichts des Siegeszuges des Fernsehens, zumal der Privaten, schien es anachronistisch, weil es keine sichtbaren Bilder produzierte, die sich im Bewusstsein der Menschen festhaken, weil es keine Druckzeilen und kerne Hochglanzbilder auf Papier bringen konnte, die an den Kiosken die Phantasie der Vorbeilaufenden anstachelte. Doch gegen allen Anschein konnte die Bildmacht der sehbaren Medien das Radio nicht verdrängen,  im Gegenteil. Nach Jahren, in denen auch das Medium Radio sich ängstlich dem Trend der Zeit angepasst hatte und Dudelfunkstationen wie Pilze aus dem Boden schossen, gewinnt das Qualitäts-Radio wieder an Boden auch dank neuer Technologien.
Das Radio ist das flüchtigste Medium. Der Hörer hört nur einmal das Wort und den Satz, die die Bedeutung transportieren - er muss sich konzentrieren, um den Sinn speichern zu können, der in den Radiobeiträgen vermittelt wird. Tut er das nicht, versteht er schnell nichts mehr und verliert das Interesse. Auch das hatte gegenüber Zeitungen und Fernsehen das Radio ins Hintertreffen geraten lassen, weil sich das moderne Medienverhalten immer mehr in Richtung Bild orientiert hatte. Mit den neuen Medien und neuen technischen Möglichkeiten wie der Digitalisierung hat sich dies zu Gunsten des Radios aber wieder verändert. Heute unterhalten die öffentlich-rechtlichen Radiosender auf den eigenen Internetseiten: Dort können Manuskripte der Sendungen nachgelesen, die Hörsendungen selbst können dort immer wieder abgehört werden, Podcasts stehen zur Verfügung, auf denen sich jeder Internetnutzer zu Hause jederzeit die Sendung auf den eigenen Computer herunterspielen kann, was im Radio gelaufen ist - eine Art Videorecorder zum Hören. Das gesprochene Wort ist nicht mehr so flüchtig wie früher, weil es vom Hörer selbst speicherbar und reproduzierbar geworden ist.
Dann gab es früher für die passionierten Radiohörer das Problem, dass sie zu Hause auf der meist genutzten Frequenz UKW nur die Sender empfangen konnten, die in der unmittelbaren Heimat des Hörers zu Hause waren. Wer in München wohnte, konnte im Alltag kaum die Sendungen des Norddeutschen Rundfunks (NDR) auf UKW am Radio verfolgen. Wer in Hamburg zu Hause war, war umgekehrt vom Bayerischen Rundfunk (BR) ausgeschlossen. Und so weiter. Zwar ließen sich fremde Sender auch über Mittelwelle (MW), Langwelle (LW) oder Kurzwelle (KW) am Radiogerät, den sogenannten Weltempfängern, hereinholen, dies aber meist in einer schlechten Qualität, die frühen Radio Vatikan-Hörer werden sich daran erinnern, glich dieses Radiohören doch eher dem Amateurfunk auf hoher See. Heute jedoch kann man fast überall jeden beliebigen Radiosender über Internet empfangen. Mittlerweile sind auch die Kosten für diesen Empfang über Internet durch die Pauschalpreise, die sogenannten Flatrates, der Internetanbieter erschwinglich geworden.
Dann sind Radiostationen zusätzlich über das Satellitenfernsehen zugänglich, Verbreitungswege von denen beispielsweise seit den neunziger Jahren neugegründete Radiostationen profitieren, die vor allem christliche Inhalte transportieren: Das „domradio" in Köln zum Beispiel, oder „Radio Horeb", denen nur regional begrenzt die begehrten UKW-Frequenzen zur Verfügung stehen - ein Problem, worauf die Kirchen die Medienpolitiker noch sehr viel mehr hinweisen müssten, um es zu lösen.
Vor allem aber erlebt das Radio eine Renaissance, weil es Formaten eine Heimat bietet, die im Fernsehen längst ausgestorben sind: Es gibt kein Fernsehspiel mehr dafür boomen die selbstproduzierten Hörspiele der öffentlich-rechtlichen Sender. Das jüngste Beispiel dafür ist der „Tatort" zum Hören. Das Feature, das es im Fernsehen kaum noch gibt, ist tagtäglich im Radio vertreten. Willkürliches Beispiel vom vergangenen Freitag: Da brachte „Dkultur" Reportagen über afghanische Fußballerinnen im deutschen Trainingslager, das Mathematikum in Gießen oder eine „Lange Nacht" über die Komiker Laurel und Hardy. „HR 2" sendete eine Reportage über Rabenkrähen. „Bayern 2" lieferte Beiträge zu „Wie funktioniert das amerikanische Wahlsystem", „Mutterseelenallein - wer hilft überforderten Schwangeren" und „Hillary Clinton - Eine Frau will ganz nach oben". „SR 2" widmete sich dem Thema Prominente als Universitätsredner. WDR 5 produzierte ein Lehrstück über Medienmanipulation durch Jingles und Werbesprüche sowie das Schicksal deutscher Raketentechniker aus der Zeit des Nationalsozialismus nach 1945 in Argentinien. „SWR 2" übernahm eine Dokumentation über eine chinesische Falun-Gong-Anhängerin, die ins Arbeitslager gekommen war.
Auch die politischen Magazine, Kulturmagazine und Wissenschaftssendungen, die im Fernsehen rigoros beschnitten worden sind, behaupten im Radioprogramm ihre Sendeplätze und bauen sie noch aus. Wo das Bild immer mehr den Weg der Boulevardisierung geht, geht das Wort wieder den Weg der Vernünftigkeit, der intelligenten Unterhaltung und des Diskurses. So registriert etwa die traditionsreiche Sendung „Aula" von SWR 2, in der Universitätsprofessoren Vorträge halten, ein neues und gestiegenes Interesse an seiner Arbeit, wo früher Existenzängste herrschten jüngst erst hat dort zum Beispiel der Philosoph Otfried Höffe einen viel beachteten Vortrag zum Begriff Menschenwürde bei Kant gehalten, um damit gegen die materialistischen Lesarten des Begriffes Front zu machen, und das alles ohne nervende Werbeunterbrechung. Selbstverständlich ist auch das als Podcast jederzeit nachhörbar. Auch über ethische Fragen von Stammzellforschung bis Patientenverfügung - die öffentlich- rechtlichen Radiosender, die Deutsche Welle (DW) und der Deutschlandfunk (DLF) bieten hier wesentlich mehr Information, Diskussionen und Meinungen als das Fernsehen und auch die Mehrzahl der großen überregionalen Tages- und Wochenzeitungen.
Das Radio ist längst noch nicht tot, sondern etabliert sich gerade wieder als Medium, das den Raum, den das Fernsehen durch sein leichtfertiges Aufgeben von Qualität verlässt, neu ausfüllt.
VON JOHANNES SEIBEL