Israels Metropole Tel Aviv wird hundert Jahre alt

Hochhäuser am Hügel des Frühlings

Die israelische Metropole Tel Aviv, die am Samstag ihren 100. Geburtstag begeht, ist immer im Umbruch. Vieles von gestern steht heute schon im Wege. Und jeder Blick auf die Häuser der ersten Siedler, die während der vergangenen Jahre renoviert wurden, erwischt auch die rasch wachsende Skyline rund um die Innenstadt.

Autor/in:
Christoph Strack
 (DR)

Freitagmittag am Beginn der Sheinkin Street, eine der quirligsten Straßen in Tel Aviv. Mitten im Gedrängel sitzt Miriam Aloni, eine große Dame des israelischen Gesangs, auf dem Klappstuhl und singt zum Keyboard. Und hofft, beinah verarmt, auf Spenden. Der ein oder andere bleibt stehen und lauscht, die meisten eilen vorbei. Wochenendeinkäufer, Touristen, junge Leute auf dem Weg zur Party.

Die kleine Szene am Rande der Fußgängerzone zeigt die Welten von Tel Aviv. Gut ein Dutzend neuer Hochhäuser, mit zum Teil beeindruckender Architektur, wachsen derzeit in den meist blauen Himmel. Aber schon wer wenige Schritte geht, weg von den großen Boulevards oder den teuren Hotels, sieht die andere Seite der Stadt am Meer. Den einfachen, meist überfüllten Markt, baufällige kleine Häuser, auch die Bettler.

Doch vor allem ist Tel Aviv, dessen landeinwärts gelegener Flughafen Ben Gurion für die meisten Besucher das Tor zum Heiligen Land bedeutet, eine pulsierende, sehr israelische und dabei ausgesprochen säkulare Großstadt. Die zweitgrößte Stadt des Landes, Finanzkapitale, Stranddorf und Partymeile. Bald zehn Kilometer erstreckt sich die Promenade am Meer entlang. Und fast nirgends sind mehr die Dünen zu erahnen, die sich hier früher erstreckten und mit ihrem Weiß zum Namen der Stadt passen. Das hebräische Tel Aviv, das einen Buchtitel des zionistischen Pioniers Theodor Herzl aufgreift, heißt "Hügel des Frühlings". "Für mich ist Tel Aviv das Meer", sagt Schriftsteller Yoram Kamiuk.

Stätten der Frömmigkeit gibt es kaum in Tel Aviv
Der 11. April 1949 gilt als offizieller Gründungstermin. Schon eine Reihe von Monaten zuvor hatten Juden aus dem südlich gelegenen, heute nahezu eingemeindeten Jaffa begonnen, die Hügel zu besiedeln. An die frühen Jahre und Jahrzehnte erinnern Gebäude im Bauhaus-Stil, die heute zum Weltkulturerbe der Vereinten Nationen zählen. In der Fußgängerzone gibt es manches Kleinod: Jugendstilhäuser mit Motiven der Levantine, verziert mit Kamel-Karawanen und Hirtenszenen.

Hundert Jahre - fast nichts in einem Land, das 3.000 oder 4.000 Jahre alte Ruinen hat und mit dem Slogan wirbt "Wo alles begann". Wer wirklich alte Reste sehen will, muss nach Jaffa oder gleich in andere Landesteile. Stätten der Frömmigkeit gibt es kaum in Tel Aviv, gebetet wird schließlich in Jerusalem.

Wichtiger Ort für die gut 60-jährige Geschichte des Staates Israel
Trotz des jungen Alters ist Tel Aviv ein wichtiger Ort für die gut 60-jährige Geschichte des Staates Israel. Nicht religiös überhöht wie Jerusalem, aber ernst und oft auch traurig. Da sind die Schrifttafeln am Meer, die an die Landung von Booten mit Flüchtlingen aus Europa erinnern, die vor der Staatsgründung illegal in das britische Mandatsgebiet Palästina kamen. Da ist der Balkon der Rothschild-Straße 16, von dem David Ben Gurion, Übervater Israels, im Mai 1948 die Unabhängigkeit des Staates Israels ankündigte. Da sind die vielen, dem Touristen kaum auffallenden Zeichen des Gedenkens an blutige Selbstmordanschläge palästinensischer Terroristen.

Und da ist der Ort der Ermordung von Ministerpräsident Jitzak Rabin 1995. An der Stelle bricht regelrecht der Boden auf, Zeichen der Erschütterung, die das Land traf. Immer noch umgeben Graffitis der Trauer und des Schmerzes den Ort. Einige Schritte entfernt hatte der 73-jährige Friedensnobelpreisträger vor vielen tausend Anhängern der Friedensbewegung seine letzte Rede gehalten. Dann sang er, mit der damals so prominenten Miriam Aloni, ihr "Lied des Friedens". Minuten später trafen ihn die tödlichen Schüsse.