Erzbischof Robert Zollitsch würdigt das Grundgesetz

"Eine Erfolgsgeschichte"

Das Grundgesetz wird am 23. Mai 60 Jahre alt. In einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur in Bonn schildert der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, seine persönlichen Erinnerungen an die Nachkriegsphase und würdigte zugleich die Verfassung der Bundesrepublik.

 (DR)

KNA: Herr Erzbischof, was haben Sie vor 60 Jahren gemacht?

Zollitsch: Vor 60 Jahren war ich Schüler in einem kleinen fränkischen Dorf, in das unsere Familie damals übergesiedelt war. Da wir nach dem Zweiten Weltkrieg keine Bücher hatten, gab mir mein Vater, der in diesem Jahr aus der Kriegsgefangenschaft heimkam, oft die Zeitung. Weil ich sie neugierig gelesen habe, gab es immer wieder Anlass zu politischen Gesprächen. Ich erinnere mich noch heute an die Wahl zum Parlamentarischen Rat 1948 und die Verabschiedung des Grundgesetzes 1949. Damals ist mir bewusst geworden: Es geht wieder nach vorne, es geht wieder aufwärts. Auch wenn wir schmerzlich gespürt haben: Die sowjetische Besatzungszone - so hieß die spätere DDR damals - war nicht dabei. Aber Deutschland trug wieder eigene Verantwortung und war ein eigener Staat. Wir haben auch in der Schulzeit das Grundgesetz gelesen und wussten nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus schon damals, was es heißt, ein freiheitliches Staatswesen aufbauen zu dürfen. Das hat uns junge Leute begeistert.

KNA: 60 Jahre Grundgesetz. Eine Erfolgsgeschichte und ein Grund zum Feiern?
Zollitsch: Ich bin dankbar und finde unser Grundgesetz großartig, auch wenn es wie jede andere Verfassung Unzulänglichkeiten hat.

Unser Grundgesetz hat geholfen, einen Staat aufzubauen, in dem die Menschenrechte an der Spitze stehen, in dem die Freiheit des Bürgers garantiert ist, gerade auch die Religionsfreiheit. Das Grundgesetz zeigt auch, wie die Menschen miteinander umgehen können und sollen. Die Geschichte der Bundesrepublik ist für mich tatsächlich eine Erfolgsgeschichte.

KNA: SPD-Chef Franz Müntefering hat eine Verfassungsdebatte begonnen. Halten Sie die für sinnvoll?
Zollitsch: Über den Vorschlag war ich überrascht. Vielleicht wollte er nur den neuen Ländern entgegenkommen, die vor 20 Jahren - wie es das Grundgesetz vorsah - der Bundesrepublik beigetreten sind. Ich bezweifle allerdings, dass uns eine neue Verfassungs-Diskussion weiterführen würde. Wir sollten zu schätzen wissen, dass es 60 Jahre lang den Menschen geholfen hat, in Sicherheit, Freiheit und einer sozial ausgewogenen Situation zu leben.

KNA: Immer wieder wird der Wunsch nach einer stärkeren direkten Bürgerbeteiligung laut. Halten Sie mehr plebiszitäre Elemente für sinnvoll?
Zollitsch: Wir haben ein ganz anderes Modell als etwa unsere südlichen Nachbarn in der Schweiz, wo es sehr viele Volksabstimmungen gibt. Wenn ich deren Wahlbeteiligung sehe, frage ich mich, ob die Vielzahl der Abstimmungen nicht auch in Deutschland die Menschen müde machen würde und lediglich einzelne versuchen könnten, ihre speziellen Interessen durchzusetzen. Ich vermisse deshalb Volksabstimmungen nicht und würde sie auch nicht einführen.

Zumeist tragen sie der Komplexität der politischen Entscheidung aufgrund einer hohen Emotionalisierung nicht Rechnung. Entscheidend ist, dass die gewählten Abgeordneten ihr jeweiliges Mandat verantwortungsvoll wahrnehmen. Wir sind ein großes Land, in dem zunächst einmal die gewählten Abgeordneten ihre Verantwortung wahrnehmen sollten.

KNA: Andere fürchten, das Grundgesetz könne durch die zunehmende Abtretung nationaler Rechte an die Europäische Union ausgehöhlt werden. Teilen Sie solche Ängste?
Zollitsch: Ich verstehe die Menschen, die solche Befürchtungen äußern. Wenn wir auf die vielen Regelungen schauen, die von Brüssel aus vorgenommen werden, sollten wir uns fragen, ob jede Vorgabe für das gesamte Europa notwendig ist. Das, was wir in Deutschland im Sinne des Föderalismus und der Subsidiarität kennen, sollte entsprechend auch in der EU gelten. Tatsächlich hat man ja auch in Brüssel mit gewissen Deregulierungsschritten begonnen.

KNA: Vor zehn Jahren hat Ihr Amtsvorgänger als Vorsitzender der Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, gemeinsam mit dem damaligen EKD-Chef Präses Manfred Kock das Grundgesetz als verlässlichen Rahmen für das Zusammenleben von Christen, Menschen anderer Bekenntnisse und Nicht-Glaubenden bewertet. Sie haben zuletzt vor Tendenzen gewarnt, die negative Religionsfreiheit überzubewerten und das religiöse Bekenntnis aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Wie steht es um das Staat-Kirche-Verhältnis?
Zollitsch: Das Grundgesetz hat die Kirchenartikel der Weimarer Verfassung übernommen. Das war eine gute Entscheidung. Kirche und Staat sind klar voneinander geschieden, aber sie arbeiten zusammen. Wir sind zum Beispiel froh, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften die Möglichkeit einer Körperschaft des öffentlichen Rechts haben oder dass wir in Krankenhäusern, Gefängnissen und bei der Bundeswehr Seelsorge leisten können. Auch die im Grundgesetz verankerte Möglichkeit zum Erteilen von Religionsunterricht halten wir für wertvoll. Wir können auf diese Weise Werte verstärken, von denen die Gesellschaft wesentlich lebt. Wenn ich mir Entscheidungen anschaue, die religiöse Symbole aus öffentlichen Räumen verbannen, dann muss ich mich aber doch fragen, ob nicht die Freiheit zu glauben und dies auch öffentlich zu zeigen, beschnitten wird.

KNA: Unmittelbar mit dem Grundgesetz verbunden ist seit 60 Jahren das Bundesverfassungsgericht als Hüter und Herr der Verfassung. Wie sehen Sie die Arbeit des Gerichts?
Zollitsch: Es ist ein großer Fortschritt, dass das Grundgesetz ein Bundesverfassungsgericht vorgesehen hat. In der Weimarer Verfassung war der Reichspräsident der einzige Garant der Verfassung. Wir brauchen eine von der Politik unabhängige Instanz, die in umstrittenen Fragen eine Entscheidung trifft. Das Bundesverfassungsgericht ist ein Segen für uns.

KNA: Wie sieht der Beitrag der Kirchen zu den Feiern zum 60-jährigen Jubiläum aus?
Zollitsch: Am 22. Mai wird es im Berliner Dom einen ökumenischen Gottesdienst geben. Damit wollen wir Kirchen zeigen, dass wir für unser Land, welches wesentlich durch das Grundgesetz geprägt ist, beten. Wir wollen uns auch aktiv daran beteiligen, das Grundgesetz mit Leben zu erfüllen. Am 30. Mai wird es in Bonn, dem Ort, an dem das Grundgesetz verabschiedet wurde, einen weiteren ökumenischen Gottesdienst geben.