Im noblen Einkaufszentrum Atlantis mitten im Herzen Bogotas warten die Werber der Armee gleich neben dem Hardrock-Cafe: Die freundlichen Herren in den Tarnanzügen drücken Passanten in diesen Tagen bunte Flyer in die Hand. "Militäroperation Schach - stolz für immer" steht auf dem Stück Papier und auch auf der Rückseite geht es patriotisch zu: "In Kolumbien gibt es Helden - die Streitkräfte".
Ein ganzes Land stand damals Kopf, als die wohl prominenteste Geisel der Welt nach erfolgreich ausgeführter «Operation Schach» auf dem Militärflughafen der Hauptstadt landete.
Mittlerweile allerdings sind in Kolumbien die Hupkonzerte und spontanen Jubelpartys der bitteren Erkenntnis gewichen, dass sich die Lage der anderen Geiseln, die nach wie vor von den Rebellen gefangen gehalten werden, keinesfalls verbessert hat. Zwar scheinen die marxistischen Kämpfer der FARC, die Betancourt über sechs Jahre unter menschenunwürdigen Umständen in den unzugänglichen Bergregionen des Landes festhielten, moralisch entwaffnet. Doch militärisch ist die älteste Guerilla-Organisation Lateinamerikas dank ihrer Millioneneinnahmen aus dem Drogenhandel und den erpressten Lösegeldern immer noch eine gefährliche Gegnerin für den Staat.
Immerhin ist die im Land nach wie vor einflussreiche katholische Kirche in den Kreis der Vermittler zurückgekehrt. Waren die Bischöfe lange Zeit von der FARC wegen ihrer angeblichen Nähe zur Regierung von Staatspräsident Alvaro Uribe als Gesprächspartner abgelehnt worden, kam im vergangenen Jahr neue Bewegung in die festgefahrenen Beziehungen. Wohl auch, weil der Erzbischof von Bogota, Kardinal Pedro Rubiano Saenz, die Regierung aufforderte, der «Guerilla einen Weg zurück in die Gesellschaft aufzuzeigen.»
Dessen ungeachtet sind die anderen 2.800 Verschleppten in Kolumbien aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit weitgehend verschwunden. Vorbei ist die Zeit, als sich hochrangige Politiker aus Europa in Bogota die Klinke in die Hand gaben, um sich als Befreier der prominenten Geisel Betancourt zu profilieren. Kein Präsident Nicolas Sarkozy kommt mehr aus Frankreich, um wie vor über einem Jahr einen Rettungsflieger zu schicken, weil es Gerüchte gab, die Franko-Kolumbianerin Betancourt sei in der Dschungelhaft schwer erkrankt.
Viele Familien der teilweise seit über zehn Jahren verschleppten Geiseln sind enttäuscht: Für die anonymen Opfer engagiert sich keine internationale Staatengemeinschaft und organisiert kein Rockstar publikumswirksame Konzerte. Hilflos müssen die Angehörigen miterleben, wie die FARC immer wieder die Freilassung von Geiseln ankündigt, diese dann aber gar nicht oder erst Monate später vollzieht. Erst am Montag (Ortszeit) verbreiteten die Rebellen - zum wiederholten Mal - eine Meldung, dass die Freilassung des seit elf Jahre entführten Soldaten Pablo Moncayo bevorstehe. Ob es tatsächlich dazu kommt, ist wie in anderen Fällen auch ein politisches Glückspiel und bedeutet für Freunde und Verwandte eine ungeheure nervliche Belastung.
Der Rummel um Betancourt, die in den ersten Monaten nach ihrer Befreiung wie eine Trophäe von einer Ehrung zur nächsten gereicht wurde, hat sich unterdessen längst gelegt. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin lebt in Frankreich und arbeitet dort an einem Buch, in dem sie ihre Erlebnisse der sechsjährigen Dschungelhaft verarbeiten will. Nach Kolumbien will Betancourt vorerst nicht zurück. Zu groß ist die Angst, dass die FARC noch einmal versuchen könnte, sie zu entführen.
Kolumbien ein Jahr nach der Befreiung von Ingrid Betancourt
Die vergessenen Geiseln
Ein Jahr nach der spektakulären Befreiung von Ingrid Betancourt aus der Hand der linksgerichteten Rebellenorganisation FARC, zehrt die kolumbianische Armee immer noch vom Ruhm des 2. Juli 2008. Unvergessen sind die Bilder, als Betancourt zusammen mit vierzehn weiteren befreiten Geiseln auf die Knie sank und ein Dankgebet zum Himmel schickte. Und doch harren immer noch 2.800 Menschen ihrer Befreiung.
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