In den Göttinger Werkstätten produzieren psychisch Kranke eine Zeitung

Artikel schreiben statt Tüten kleben

Einmal in der Woche hat Jan Hendrik Gotthardt Abwechslung im tristen Arbeitsalltag. Er verlässt die Metallwerkstatt für zwei Stunden und setzt sich an den Computer. Statt leichte Metallarbeiten zu verrichten und Tüten zu kleben, schlüpft der 30-Jährige in die Rolle eines Journalisten.

Autor/in:
Stefan Matysiak
 (DR)

Gotthardt gehört zur achtköpfigen Redaktionsgruppe der Göttinger Werkstätten. Die Beschäftigten der Behinderteneinrichtung haben kürzlich die zweite Nummer der "Werkstatt-Zeitung" herausgebracht. Zwölf Seiten hat das vierfarbige Magazin. Die Artikel handeln von Themen wie dem Leben mit einer Behinderung oder der Arbeit in der Behindertenwerkstatt. Auch Filmrezensionen werden gedruckt.

Für Gotthardt erfüllt sich mit der Arbeit bei der Zeitung ein Traum. Als er 18 Jahre alt war, musste er wegen einer psychischen Erkrankung das Gymnasium verlassen. "In der Schule bin ich aussortiert worden", sagt er. Statt das Abitur zu machen und Journalist zu werden, kam er in die Werkstatt für Behinderte.

Wie Gotthardt geht es immer mehr Menschen. In der Behindertenstatistik werden für das Jahr 2007 rund 343.000 Menschen mit Psychosen, Neurosen oder Verhaltensstörungen als schwerbehindert erfasst. Das sind 44 Prozent mehr als im Jahr 2001, als die Schwerbehindertenstatistik 237.000 Menschen mit solchen Erkrankungen aufwies.

Die Betroffenen landen oft in den Werkstätten für Behinderte
Die Zahl der psychischen Erkrankungen habe sowohl absolut als auch relativ stark zugenommen, heißt es auch in der aktuellen Werkstätten-Studie des Bundesarbeitsministeriums. So stieg die Zahl der Frauen, die zwischen 1994 und 2003 wegen psychischer Erkrankungen arbeitsunfähig wurden, um 57 Prozent, die der Männer gar um 82 Prozent.

Die Betroffenen landen oft in den Werkstätten für Behinderte. Waren Anfang 2005 noch 39.000 Werkstattbeschäftigte psychisch Kranke, nahm diese Zahl in den folgenden zwei Jahren um 15 Prozent auf 45.000 zu. Während früher zumeist geistig behinderte Menschen in den Werkstätten arbeiteten, sind es heute laut Studie zunehmend besser ausgebildete Beschäftigte, die zuvor einen regulären Beruf ausgeübt haben.

Die Göttinger Werkstätten reagieren mit der Herausgabe der "Werkstatt-Zeitung" auf diese Beschäftigten. Wer durch eine psychische Erkrankung aus der Wirklichkeit gerissen werde, müsse lernen, sich mit seiner Situation auseinandersetzen, sagt der Leiter der beruflichen Rehabilitation, Eberhard Taege. Die Zeitungsarbeit biete eine Möglichkeit, die eigene Situation zu reflektieren. "Die Redaktionsmitarbeiter sollen lernen, zu sich stehen zu können."

"Das hilft, Brücken nach außen zu schlagen"
Die Zeitung habe jedoch auch Vorteile für die Werkstätten, sagt Taege. So könne die Einrichtung ihre Arbeit im Heft darstellen. "Das hilft, Brücken aus der Werkstatt nach außen zu schlagen." Die Redaktionsmitarbeiter erhielten darüber hinaus zusätzliche eine Qualifikation. Die Zeitungsarbeit verbessere etwa deren Kommunikations- und Ausdrucksfähigkeit.

Für Jan Hendrik Gotthardt bedeutet die Arbeit in der Redaktion vor allem, dass er aus der "anspruchslosen Beschäftigung der Behindertenwerkstatt ausbrechen" kann. "Werkstatt ist Unterforderung", sagt er. Seit er bei der Werkstatt-Zeitung mitmacht, blüht er auf: "Ich habe gemerkt, dass ich doch mehr kann, als Schrauben in Blöcke drehen."

Mit der Leistung seiner Mitarbeiter ist Redaktionschef Udo Angerstein zufrieden: "Es sind teilweise ganz tolle Texte entstanden." Die Integration von psychisch Kranken ins Berufsleben muss nach seiner Ansicht stärker gefördert werden. "Warum müssen die in einer Werkstatt sitzen und Tüten kleben?" Seine Integration in das normale Arbeitsleben ist das Ziel von Jan Hendrik Gotthardt: "Mein Traum wäre, in einer richtigen Redaktion zu arbeiten, wo die Bedingungen so sind, dass ich nicht überfordert werde."