Wensierski zufolge wurden bis in die 70er Jahre hinein Bewohner westdeutscher Waisen- und Fürsorgeheime oft seelisch und körperlich misshandelt sowie als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Viele Jugendliche seien «geschlagen, erniedrigt und eingesperrt» worden.
Die Vorwürfe und das breite Echo in den Medien schrecken die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas auf. Sie sind als Träger von Einrichtungen in das dunkle Kapitel der Nachkriegsgeschichte verstrickt. Schwer lasten auf ihnen die Vorwürfe, Erzieherinnen und Erzieher, die oft einem Orden angehörten und als Verfechter christlicher Werte auftraten, hätten in den Heimen mit aller Härte agiert.
Fortan beschäftigen sich die Träger der Heime selbstkritisch mit dem Thema, heutige Heimleiter entschuldigen sich bei den Opfern. Auch Diakonie-Chef Klaus-Dieter Kottnik zeigt sich betroffen: Es tue ihm «unendlich leid», dass Kinder ihre Zeit im Heim als Leidenszeit erlebt hätten, sagt er im September 2008.
Im Mai 2006 beantragt die SPD-Bundestagsfraktion im Petitionsausschuss eine Anhörung ehemaliger Heimkinder. Am 11.
Dezember berichten neun Opfer im Ausschuss nichtöffentlich über ihre schlimmen Erfahrungen in Erziehungsanstalten. Mit einer Petition im Bundestag will der Verein der ehemaligen Heimkinder erreichen, dass die Betroffenen als Opfer von Menschenrechtsverletzungen anerkannt und entschädigt werden.
Der Petitionsausschuss des Bundestages verabschiedet im November 2008 mit den Stimmen aller Fraktionen eine Empfehlung, wonach die Bundesregierung einen Runden Tisch zur Aufarbeitung des Leids der Heimkinder einrichten soll. Der Bundestag stimmt am 4. Dezember zu.
Vorsitzende des Gremiums wird die frühere Vizepräsidentin des Bundestages Antje Vollmer (Grüne). Dem Runden Tisch gehören Vertreter des Vereins der früheren Heimkinder, kirchlicher und nichtkirchlicher Heimträger, der Länder sowie Experten an. Das Gremium soll auch klären, ob und wie frühere Heimkinder entschädigt werden können. Die Auftaktsitzung findet am 17. Februar 2009 statt. Ein Abschlussbericht ist für 2010 geplant.
Im Vorfeld der zweiten Sitzung des Gremiums am 2. und 3. April eskaliert im Verein der Streit über die Auswahl seiner drei Vertreter für den Runden Tisch. Der Vorsitzende des Vereins, Hans-Siegfried Wiegand, legt sein Amt nieder. Für ihn soll nach dem Willen des neugewählten Vorstandes der Hamburger Rechtsanwalt Gerrit Wilmans am Tisch sitzen, der sich zudem von dem umstrittenen Münchener Anwalt Michael Witti beraten lassen will. Dazu kommt es nicht, weil der Runde Tisch beschließt, keine Anwälte zuzulassen.
Am 15. und 16. Juni trifft sich der Runde Tisch zum dritten Mal. Zuvor fordert der Heimkinder-Verein die Einrichtung eines Entschädigungsfonds, der mit 25 Milliarden Euro ausgestattet sein soll.
Am Donnerstag, 13. August, weisen die Richter des Berliner Kammergerichts einen Antrag des Vereins auf eine einstweilige Verfügung ab, wodurch der Heimkinder-Verein eine Teilnahme seiner Anwälte am Runden Tisch erzwingen wollte. Durch die richterliche Entscheidung kann der Runde Tisch seine Arbeit forsetzen.
Vom Enthüllungsbuch zum Runden Tisch für ehemalige Heimkinder
Hintergrund
Das Schicksal der Heimkinder im Nachkriegsdeutschland rückt im Februar 2006 mit einem Paukenschlag ins öffentliche Bewusstsein: "Spiegel"-Autor Peter Wensierski veröffentlicht sein Buch "Schläge im Namen des Herrn". Er thematisiert das Los von mehr als einer halben Million Kindern in staatlichen und kirchlichen Heimen.
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