Kibbuz-Bewegung feiert 100-jähriges Bestehen

Zwischen Idealismus und Überlebenskampf

Die Kibbuz-Bewegung feiert 2010 ihr 100-jähriges Jubiläum. Degania, der erste Kibbuz überhaupt, wurde 1910 am See Genezareth in Betrieb genommen - 38 Jahre vor der Gründung des Staates Israel.

Autor/in:
Gabi Fröhlich
 (DR)

In der Mitte vom Kibbuz Lavi steht die Synagoge. "Unser Herz", nennt sie Gertrud Urman stolz. In der Synagoge von Lavi werden die jüdischen Feste gefeiert; hier lernen die Kinder den Umgang mit der Tora. Rundherum gruppieren sich die Häuschen der Kibbuzniks mit Speisesaal, Schule, Krankenstation. Am Rand befinden sich die Werkstätten, ein Hotel, Ställe, Schwimmbad... "Das alles gehört mir", sagt Gerti, wie die alte Dame genannt wird - "mir und 300 anderen".

Der 81-jährigen Wienerin ist die Kibbuz-Idee in Fleisch und Blut übergegangen. Sie kam 1950 nach Lavi, kurz nach dessen Gründung: In einer Hütte aus jenen Jahren - heute ein Museum - steht einer der 17 Koffer, mit denen die Städterin eintraf: "Alle haben mich damals ausgelacht", erinnert sie sich vergnügt. Die anderen, das waren ihre religiös-zionistischen Freunde aus England. Die meisten waren wie sie durch einen Kindertransport dem Naziterror entkommen. Und nun standen sie hier, elf Jahre später, auf einem kargen Hügel in Galiläa - voller Idealismus, aber ohne Ahnung von Landwirtschaft.

"Alles war voller Steine"
"Die Einwanderer kamen aus dem städtischen Bürgertum", erläutert Mario Toiw von der Kibbuz-Bewegung, die 2010 ihr 100-jähriges Jubiläum feiert. "Aber sie wollten eine Nation werden wie jede andere, mit breiter landwirtschaftlicher Basis." Auch im Kibbuz Lavi bissen sich die Gründer durch die harte Wirklichkeit. "Alles war voller Steine", erzählt Gerti, "wir waren steinreich!" Geschlafen wurde in Zelten, im Speisesaal gab es ein Messer pro Tisch, zum Waschen eine Blechschüssel für alle: Die Kibbuzim galten als Verwirklichung des kommunistischen Ideals: Alles gehörte allen gemeinsam, alle bekamen gleiches Gehalt.

Gleichzeitig waren sie Vorposten des Zionismus: Degania, der erste Kibbuz überhaupt, wurde 1910 am See Genezareth in Betrieb genommen - 38 Jahre vor der Gründung des Staates Israel. Dass Degania mittlerweile, wie die meisten Kibbuzim, von der sozialistischen Idee Abschied genommen hat, findet Gerti enttäuschend. Lavi gehört zu den nurmehr knapp 80 Gemeinschaftssiedlungen, die den Anfangsidealen treu geblieben sind. Alle anderen haben in verschiedensten Modellen und Graden Bezahlung für die geleistete Arbeit eingeführt und dem Privatleben größeren Raum eingeräumt. Nur so konnten sie der Abwanderung der jungen Leute und dem wirtschaftlichen Niedergang entgegenwirken.

Auch Gerti war mehrfach davor, alles hinzuwerfen - "der Kinder wegen". Ihre drei Töchter durfte sie anfangs nur zwei Stunden täglich sehen; zum Schlafen mussten sie ins Kinderhaus. Doch dann setzten junge Mütter in der Generalversammlung durch, dass die Kinder zu den Eltern ziehen durften. Zwei von Gertis Töchtern sind heute tragende Gestalten des Kibbuz, und nur einer von zwölf Enkeln hat bislang das Weite gesucht: "Er findet es ungerecht, dass seine Eltern so viel arbeiten, während andere sich durchfüttern lassen", meint die energische Wienerin bedauernd.

Neue Einkommensquellen
Auch die traditionellen Kibbuzim haben sich fortentwickelt, neue Einkommensquellen erschlossen. So stammt etwa die bekannteste Enthaarungsmaschine für Frauenbeine aus einem Kibbuz. Von En Gev aus werden Pilger in "Jesus-Booten" über den See Genezareth geschifft; am Jordan richteten Kibbuzniks eine Taufstelle ein. Lavi stellt Synagogenmöbel her, die in die ganze Welt exportiert werden. Das kibbuzeigene Hotel lockt jüdische und christliche Gäste aus der ganzen Welt.

Auch wenn inzwischen wieder verstärkt junge Familien in Kibbuzim ziehen - echte Mitglieder werden die meisten davon nicht. "Sie wollen von unserer Wohnqualität profitieren, ohne große Verpflichtungen einzugehen", sagt Mario Toiw. Wie lang einzelne Kibbuzim die Anfangsideale noch über das Jahrhundert-Jubiläum hinaus retten werden, weiß niemand. Bis dahin nennt Gerti ihren Kibbuz "ein Naturschutzgebiet für Idealisten."