Sechs Monate nach dem Erdbeben kommt Haiti nur langsam voran

Weiter Straßen voller Schuttberge

Es war eine Katastrophe, die ein auf der Kippe stehendes Land noch weiter an den Rand des Abgrunds stieß: Am 12. Januar, vor genau einem halben Jahr, kamen bei einem verheerenden Erdbeben auf Haiti mehr als 220.000 Menschen ums Leben. 300.000 wurden verletzt. Sechs Monate später ist von Normalität noch keine Spur.

Autor/in:
Gottfried Bohl und Christoph Arens
 (DR)

Für viele Haitianer steht weiterhin das tägliche Überleben im Vordergrund. Eine Million Menschen, so schätzt die UNO, leben noch immer in Notunterkünften und rund 1.000 Zeltstädten.

Trotz vieler Spenden - 195 Millionen Euro allein aus Deutschland - sei die Arbeit extrem schwierig, berichtet Bernd Klaschka, Geschäftsführer des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat. Und Jörg Kaiser, Projektleiter bei Caritas international, erzählt: "Die Straßen liegen weiter voller haushoher Schuttberge."

Fest steht, dass die langsam zu Ende gehende Phase der Nothilfe viel länger gedauert hat als in anderen Katastrophenregionen: "Normalerweise geht man davon aus, dass nach vier, fünf Monaten der Übergang passiert von der humanitären Hilfe hin zur Phase, wo man Grundlagen legen kann für längerfristige Entwicklungsarbeit", erläutert Hein Brötz, der bei Misereor die Hilfe für Lateinamerika koordiniert. "Das ist in Haiti leider nicht der Fall."

Schon vor der Katastrophe Armenhaus
Das liegt auch daran, dass der Inselstaat schon vor der Katastrophe das Armenhaus der westlichen Hemisphäre war: von Konflikten zermürbt und ausgepresst von grotesken Herrschern. 55 Prozent der 9,4 Millionen Einwohner lebten nach UN-Angaben von weniger als 1,25 Dollar pro Tag. 86 Prozent der städtischen Bevölkerung wohnten in Slums und 58 Prozent hatten keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Kein Wunder, dass viele Experten die Katastrophe auch als Chance für einen völligen Neuanfang sahen.

Doch die Bedingungen sind noch nicht so: Laut Oxfam müssen durch das Erdbeben allein 19 Millionen Kubikmeter Schutt beiseite geräumt werden - 8 Millionen Lastwagenladungen, wenn man diese Lkw hätte. Die Haitianer müssen das meiste wohl mit der Hand wegräumen. Auf die Frage, warum die Hilfe nur zögerlich wirkt, gibt es unterschiedliche Antworten. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki Moon, beklagte, dass viele Staaten ihre Zusagen nicht einhielten.

Hilfsorganisationen erheben Vorwürfe gegen die Regierung des Karibikstaats. "Alle warten darauf, dass die Regierung endlich klare Maßnahmen verkündet, wie sie den Wiederaufbau plant", analysiert Jörg Kaiser von Caritas international. Viele Menschen verharrten in einer Warteposition. Zu beachten ist dabei, dass 13 von 15 Ministerien zerstört wurden und dass auch ein Drittel der 60.000 Beamten Haitis starben.

Positive Signale
Aber es gibt auch positive Signale. Viele Straßen und Plätze konnten wieder frei geräumt werden. Eine erste Ernte reift auf den Feldern, berichtet die Welthungerhilfe in Bonn. Oxfam schätzt, dass zumindest die Menschen in der Region der Hauptstadt Port-au-Prince über mehr Trinkwasser und Sanitäranlagen verfügen als vor dem Beben.

Auch die katholischen Hilfswerke in Deutschland versichern, dass die Spenden ankommen. Adveniat unterstützt beispielsweise Maßnahmen, die Priester, Ordensleute und Laien in die Lage versetzen, Traumaarbeit zu leisten. "Zunächst muss der Mensch wieder aufgebaut werden, bevor man daran gehen kann, Gebäude wieder zu errichten", sagt Klaschka. Caritas international engagiert sich etwa beim Aufbau eines Ausbildungszentrums für Handwerker und eines Gesundheitszentrums.

Und Misereor hilft beim Bau von Schulen und erdbebensicheren Häusern: Die Haitianer werden zu Baumeistern ausgebildet, die traditionelles Wissen mit Techniken erdbebensicheren Bauens verknüpfen können. "Man muss den Menschen zu verstehen geben: Ohne euch werden wir hier keine Projekte durchführen. Ihr seid der Motor des Neuaufbaus", sagt Hein Brötz von Misereor.

Währenddessen droht neues Ungemach: Für die Menschen auf Haiti hat ein Wettlauf mit der Zeit begonnen. Ausgerechnet in diesem Sommer werden besonders heftige Wirbelstürme über der Karibik erwartet.