KNA: Herr Hecking, Um die Hungerkatastrophe in Ostafrika ist es in den Medien ruhiger geworden. Ist die Gefahr gebannt?
Hecking: Nein, sondern nur die schlimmsten Folgen der Dürre, die aber weiter anhält. UNHCR, World Food Programme und die vielen anderen Hilfsorganisationen haben die Versorgung der Millionen Hungernden am Horn von Afrika mit Nahrung, Wasser und Medizin inzwischen ganz gut im Griff. Sie haben sehr schnell und effizient reagiert. Wer es in Lager oder zu Versorgungsstationen schafft, braucht zwar nicht zu verhungern oder zu verdursten. Aber das Leben dort bleibt erbärmlich. Zumal wir es vielfach mit einer doppelten Katastrophe zu tun haben, denn neben der Dürre wüten in weiten Regionen noch Krieg und Bürgerkrieg.
KNA: Wie sah es in den äthiopischen Lagern an der Grenze zu Somalia aus, die sie besucht haben?
Hecking: Ich glaube, die Atmosphäre kann man sich hierzulande trotz der Fernsehbilder nicht vorstellen. Es wächst überhaupt kein Grün, außer einigen Dornensträuchern, Staub, felsigem Boden und viel Wind gibt es nichts. In den fünf Lagern, die ich gesehen habe, leben mehr als 130.000 Menschen in Zelten des UNHCR. Die Leute kommen nach zwei bis drei Wochen Fußmarsch aus Somalia völlig abgemagert an, derzeit rund 1.000 pro Tag. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Wie schlimm muss es auf der anderen Seite der Grenze aussehen, wenn sie diese Lager als Rettung sehen?
KNA: Was sind das für Menschen?
Hecking: 70 bis 80 Prozent der Lagerbevölkerung sind Kinder und Jugendliche, der Rest sind Frauen. Männer gibt es fast gar nicht. Sie sind entweder tot, verschwunden, kämpfen freiwillig oder unfreiwillig bei den somalischen Al-Schabaab-Milizen oder versuchen die sterbenden Viehherden zu versorgen, die die Lebensgrundlage der Familien sind. Wer es bis in die Lager schafft, ist in der Regel nicht nur körperlich am Ende, sondern auch traumatisiert. Die Menschen kennen oft nur die lebenslange Erfahrung von Not, Gewalt und Tod. Deshalb das Projekt des Flüchtlingsdienstes der Jesuiten (JRS), das missio unterstützt.
KNA: Worum geht es dabei?
Hecking: Geplant ist ein Programm, das jungen Menschen erstens die Möglichkeit einer Schulbildung gibt. Derzeit gibt es in allen Lagern zusammen nur zwei oder drei Grundschulen, und die meisten Lagerbewohner haben noch nie ein Klassenzimmer von innen gesehen.
Zweitens geht es JRS um die psychosoziale Begleitung für die vielen seelisch Verletzten.
KNA: Wie genau wollen Sie ihnen helfen?
Hecking: Die Jesuiten haben im Bereich der Gesprächstherapie sehr gute Programme entwickelt, die sich bewährt haben. Schon das bloße Sprechen über ihre Gewalterlebnisse ist für die Betroffenen eine sehr befreiende Erfahrung. Diese Frauen, Mädchen und Jungen stammen ja aus einer absolut männerdominierten traditionalistischen Gesellschaft, in der sie, schlicht gesagt, vor allem den Mund zu halten haben.
Gleichzeitig ist diese Gesellschaft auch ohne Krieg gewalttätig - zum Beispiel sind die meisten Frauen und Mädchen genitalverstümmelt mit allen schrecklichen Folgen dieser Prozedur. Ein weiterer Schwerpunkt des Programms ist eine sozialpädagogisch sinnvolle Freizeitbeschäftigung für die Jugendlichen. Denn für die Kinder und Jugendlichen gibt es - ganz abgesehen von den fehlenden Schulen - in den Lagern überhaupt keine Angebote.
KNA: Das alles klingt nach einem langfristigen Aufenthalt der Menschen in den Lagern.
Hecking: Genau das kann aber nicht die Lösung sein. Schon jetzt gibt es in der Region und anderswo regelrechte Lagerbiografien von Menschen, die sich ein selbstverwaltetes Leben gar nicht mehr vorstellen können und deren Abhängigkeit von fremder Hilfe immer größer wird. Das muss man unbedingt verhindern. Deshalb ist die Schulbildung dieser Leute auch so wichtig. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass ganze Länder nicht mehr in der Lage sind, ihre Bevölkerung zu ernähren und sich stattdessen selbst zerfleischen.
KNA: Wie groß sind da ihre Hoffnungen angesichts der politischen Lage in den Hungerstaaten am Horn von Afrika?
Hecking: Die ist in der Tat deprimierend. Somalia versinkt weiter in Gewalt und Anarchie; die Isolation und Despotie in Eritrea erinnert an nordkoreanische Verhältnisse; Äthiopien gibt sich gern offen und liberal, bleibt aber ein Einparteienstaat, in dem die Opposition unterdrückt wird; auch in Kenia ist zu befürchten, dass bei den nächsten Wahlen die Gewalt zwischen den Stämmen wieder ausbricht.
Alle diese Nachbarländer arbeiten eher gegen- als miteinander, dabei müssten sie angesichts des weiteren Klimawandels dringend kooperieren. Und die Entscheidungsprozesse in diesen Ländern sind so beweglich wie Supertanker. Mit anderen Worten: Viel Hoffnung auf schnelle Verbesserungen habe ich nicht. Aber die Herausforderungen durch das Klima und die Mangelwirtschaft bleiben ja. Man muss also auf allen Ebenen - Diplomatie, Entwicklungs- und technischer Hilfe - immer weiter dafür arbeiten, dass solche Katastrophen nicht zum Normalfall werden.
Das Interview führte Christoph Schmidt.
missio-Ostafrika-Experte zur Lage in den Hungergebieten
"Wir dürfen uns nicht damit abfinden"
Die Situation in den Dürregebieten am Horn von Afrika bleibt dramatisch. Hunderttausende können nur in den riesigen Lagern der internationalen Gemeinschaft überleben. Fünf davon hat der Ostafrikaexperte der katholischen Hilfsorganisation missio, Hans-Peter Hecking, vor kurzem in der äthiopischen Region Dollo Ado besucht.
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