Bundesarbeitsgericht in Erfurt gibt Gewerkschaften Recht

Kein generelles Streikverbot

Kirchlich Beschäftigten darf nicht generell das Streiken verboten werden. Das hat das Bundesarbeitsgericht in Erfurt in zwei Urteilen am Dienstag entschieden und damit den Gewerkschaften ver.di und Marburger Bund im Grundsatz Recht gegeben.

 (DR)

Damit müssen die großen christlichen Kirchen sowie die Einrichtungen von Caritas und Diakonie mit ihren bundesweit rund 1,3 Millionen Beschäftigten Streiks zulassen.



Die obersten Arbeitsrichter entschieden in einem Streit zwischen den Gewerkschaften ver.di und Marburger Bund mit mehreren evangelischen Landeskirchen und deren diakonischen Einrichtungen. Die Kirchen beharrten auf dem sogenannten Dritten Weg, wonach sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber einvernehmlich auf Löhne und Arbeitsbedingungen einigen, so dass aus Sicht der Arbeitgeber ein Arbeitskampf ausgeschlossen sei. Grundlage hierfür sei das im Grundgesetz verankerte Recht, dass die Kirchen selbst über ihre Angelegenheiten und damit auch über ihre Arbeitsverhältnisse bestimmen können.





Dass die Erfurter Verhandlung über das Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen wahrscheinlich eine "richtungsweisende Zwischenetappe" sein wird, sagte Bundesarbeitsgerichts-Präsidentin Ingrid Schmidt zu Beginn der Verhandlung. Es würden "eine ganze Reihe deliktischer, aber vor allem verfassungsrechtlicher Fragen aufgeworfen." Möglicherweise ende die Wegstrecke nicht in Erfurt oder Karlsruhe, "sondern in Straßburg". Straßburg ist Sitz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).



Caritas und Diakonie verteidigen geltendes Recht

Am Dienstagmorgen hatte Caritas-Präsident Peter Neher das geltende Recht verteidigt. Das eigene Tarif-Findungssystem der kirchlichen Einrichtungen sei angemessen und habe sich bewährt, sagte Neher im Deutschlandradio Kultur. Dieses System sei genauso legitim wie die Tarifverhandlungen in anderen Unternehmen und müsse als gleichberechtigt anerkannt werden. Demgegenüber kritisierte verdi-Chef Frank Bsirske die Lage der Arbeitnehmer in Kirchen als vordemokratisch.



Auch der Präsident der Diakonie Deutschland, Johannes Stockmeier, hatte nochmals betont, dass sich der sogenannte Dritte Weg bewährt habe. Demnach werden Arbeitsbedingungen in sogenannten Arbeitsrechtlichen Kommissionen ausgehandelt, die paritätisch mit Vertretern der Mitarbeiter und der Arbeitgeberseite besetzt sind. Konflikte müssen durch ein Schlichtungsverfahren entschieden werden.



Nach Auffassung von ver.di-Chef Frank Bsirske fehlt es den Richtlinien der Kommissionen jedoch an der Verbindlichkeit. Sie hätten nur Empfehlungscharakter. Dagegen könnten die Gewerkschaft Tarifverträge aushandeln, die für alle verbindlich seien.



Gerichte gaben Gewerkschaften Recht

Hintergrund des aktuellen Rechtsstreits sind Warnstreiks, die ver.di und der Marburger Bund in den Jahren 2009 und 2010 in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hamburg organisierten. Vor dem Landesarbeitsgericht Hamm und dem Arbeitsgericht Hamburg wurde Anfang 2011 die Klagen der evangelischen Kirche abgewiesen. Nach Ansicht der Hammer Richter "rechtfertigt das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen jedenfalls keinen vollständigen Ausschluss von Arbeitskampfmaßnahmen im Bereich kirchlicher Einrichtungen". Auch sei der Dritte Weg nicht geeignet, "der Arbeitnehmerseite vergleichbare Chancen zur Durchsetzung ihrer Forderungen zu vermitteln", wie sie außerhalb der Kirche mit Tarifvertrag und Arbeitskampf zur Verfügung stünden.



Vertreter beider Seiten hatten schon vorher angekündigt, bei einer Niederlage in Erfurt vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Danach wäre eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg der nächste Schritt. Denn beim EGMR können auch nicht-staatliche Organisationen mit einer Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland - beziehungsweise gegen deren höchste Gerichte - vorgehen.