Zentralrat zu 65 Jahre Auschwitz-Befreiung

"Die Nazis holten Roma-Kinder aus katholischen Heimen"

Zum 65. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau mahnt der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, die Erinnerung an die Ermordung von einer halben Million Sinti und Roma durch die Nazis wachzuhalten. Im Interview appelliert er auch an die Katholische Kirche.

 (DR)

KNA: Herr Rose, am Mittwoch jährt sich die Befreiung des Todeslagers Auschwitz-Birkenau zum 65. Mal. Wie geht Ihr Verband mit diesem Datum um?
Romani Rose: In Auschwitz wurden wie in allen anderen Nazi-Konzentrationslagern auch Sinti und Roma ermordet. Insgesamt starben 500.000 Sinti und Roma, und die Erinnerung daran muss wach bleiben. Gleichzeitig geht der Blick jedoch nach vorn. Wir wollen nicht den Enkeln und Urenkeln der Täter die Schuld auf die Schultern laden. Die Lehre des Nationalsozialismus muss lauten: Immer wieder dafür zu streiten, dass Menschenrechte nicht verletzt werden dürfen.
Das ist die Verantwortung, die der jungen Generation aus dem Holocaust erwächst.

KNA: Wie sehen Sie die Situation der geschätzten 70.000 deutschen Sinti und Roma heute?
Rose: In einer von uns organisierten Umfrage haben 76 Prozent angegeben, Fälle von Diskriminierung erfahren zu haben - sei es in der Schule, am Arbeitsplatz oder bei der Suche nach einer Wohnung. Aber gleichzeitig ist es wichtig zu sehen, dass Deutschland eine sehr gefestigte Demokratie ist. Das beweisen auch die Medien. Viele, vor allem die jungen Bürger, reagieren sehr sensibel auf Rassismus und erheben ihre Stimme dagegen. Eine so starke und aktive Zivilgesellschaft ist nicht selbstverständlich. So gibt es in osteuropäischen Ländern derzeit einen wachsenden, teils gewalttätigen Antiziganismus. Das ist in Deutschland aus meiner Sicht derzeit nicht zu befürchten.

KNA: Ein vorsichtiges Aufatmen also, da sich die Lage Ihrer Minderheit in den vergangenen Jahren stark verbessert hat?
Rose: Nein, denn Demokratie bedeutet nicht, dass wir uns auf dem Erreichten gemütlich ausruhen dürfen. Deshalb ist es für den Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma so wichtig, den Dialog mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu suchen. Wir wollen zeigen, was unsere Minderheit in ihrer 600-jährigen Geschichte zur deutschen Kultur beigetragen hat. Wir sind als deutsche Sinti und Roma Bestandteil der Gesellschaft. Das ist auch unser Land.

KNA: Fast 90 Prozent der Sinti und Roma sind katholisch. Erfährt Ihre Minderheit genügend kirchliche Unterstützung?
Rose: Leider nein. Es gibt keine angemessene Betreuung und zu wenige Angebote. Auch innerhalb der Kirche stoßen wir zu oft auf rassistische Ausgrenzung und Vorurteile. Die Sinti und Roma fühlen sich als Katholiken, als normaler Teil der Kirche - das erkennt die Kirchenführung aber nicht an. Die Probleme zeigen sich schon im Begriff "Zigeunerseelsorge", den die Deutsche Bischofskonferenz trotz jahrelanger Proteste weiter verwendet. Wir sind keine Nomaden, sondern in der Gesellschaft verzahnt und nehmen an ihrer Entwicklung teil. Die jüngsten Gespräche mit hohen Kirchenvertretern und Signale aus dem Vatikan machen mir aber Hoffnung, dass endlich etwas passiert.

KNA: Was stört Sie am Begriff "Zigeunerseelsorge"?
Rose: "Zigeuner" ist eine von Vorurteilen überlagerte Fremdbezeichnung der Mehrheitsgesellschaft, die von den allermeisten Angehörigen unserer Minderheit als diskriminierend empfunden wird. So haben wir Sinti und Roma uns nie genannt. Auch im internationalen Sprachgebrauch - sei es bei der EU, bei der OSZE oder dem Europarat - wird der Begriff nicht verwandt. Wer sich die Vernichtung und Verfolgung von Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten bewusst macht, die uns nach ihrer Rassenlehre als "Zigeuner" bezeichneten, der benutzt diesen Begriff nicht mehr.

KNA: Sie beklagen auch, dass die katholische Kirche zu wenig gegen die Deportation von Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten unternommen habe?
Rose: Ja, das steht leider bis heute zwischen uns. Es gab mehrere vergebliche Bittschreiben von Sinti und Roma an katholische Bischöfe, gegen die Deportationen einzuschreiten. Etwa an den damaligen Vorsitzenden der Bischofskonferenz, den Breslauer Kardinal Adolf Bertram, oder an den Freiburger Erzbischof Conrad Gröber. Aus katholischen Heimen holten die Nazis Sinti- und Roma-Kinder, um sie in die Vernichtungslager zu bringen. Außerdem öffneten viele Pfarrer den Nazis ihre Kirchenbücher, damit "Rassegutachten" erstellt werden konnten, die noch für "Ein-Achtel-Zigeuner" das Todesurteil bedeuteten. Das alles ist von Seiten der Kirche noch zu wenig aufgearbeitet. Und deshalb haben sich nicht wenige Sinti und Roma von der katholischen Kirche abgewandt.

Interview: Volker Hasenauer