domradio.de: Wie erklären Sie sich diese neuesten Vorkommnisse - es sieht nach Trittbrett-Fahrerei aus nach dem Überfall auf den Rabbiner, oder?
Ginzel: Ich würde nicht sagen Trittbrettfahrer, das ist zu verharmlosend. Es sind eherFolgetaten von Menschen, die entsprechend gestimmt sind, entsprechend aggressiv sind und nun das Gefühl haben, dass das irgendwie raus muss. Also Menschen, die das sowieso irgendwo vorhatten und die dann spontan reagiert haben. Als vor zwei, drei Jahrzehnten in Köln die Synagoge geschändet wurde, kam es zu über 2.500 Folgetaten. Das ist alles ganz schlimm und wir haben zu befürchten, dass da noch mehr kommt.
domradio.de: "Jüdisches Leben in Deutschland ist sicher" - hat Dieter Graumann, der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, in den letzten Tage mehrfach gesagt. Fühlen Sie sich sicher?
Ginzel: Ja, natürlich. Aber es stimmt eben beides. Ich finde es sehr gut, dass Graumann hier nicht Öl ins Feuer schüttet und die übrigen Verbände halten sich ja auch erkennbar zurück, wie etwa die Union progressives Judentum. Aber wir müssen sehen, dass es zwischen der individuellen Bedrohung und der kollektiv empfundenen Situation der Bedrohung einen Unterschied gibt. In der Tat bekommen jüdische Gemeinden seit so vielen Jahren so viele böse Briefe, Anrufe, Bedrohungen. Selbst die kleine liberale jüdische Gemeinde in Köln: Wenn sich da 20-30 Leute zum Gebet versammeln, durchsucht die Polizei erst die Räumlichkeiten und dann steht ein Polizeiwagen den ganzen Abend oder den ganzen Tag vor der Tür. Erst wenn abgeschlossen ist, fährt die Polizei wieder weg. Nicht weil die Gemeinde das fordert, sondern weil die Behörden Sorge haben. Das hat natürlich den Effekt, dass man sich zurückzieht, weil eine Barriere entsteht. Wer geht schon gerne zum Gebet, wenn er von Polizisten betrachtet wird?
domradio.de: Der Überfall auf den Rabbiner Alter könnte auf das Konto arabischstämmiger Täter gehen. Bei dem Vorfall mit den Schülern trug eine Täterin ein Kopftuch. Was bedeutet das für die Beziehungen zwischen Muslimen und Juden in Deutschland?
Ginzel: Ganz schwierige Frage. Auf der einen Seite sind die Beziehungen so gut wie nie. Man ist in sehr vielem ganz öffentlich solidarisch, gemeinschaftlich. Es gibt durchaus einen interkonfessionellen Dialog, der funktioniert. Auf der anderen Seite dringt dies nicht durch zur Basis. Es rächt sich jetzt, was in den Heimatländern läuft. In der Türkei und vor allem in den arabischen Ländern wird seit Jahren eine antisemitische Stimmung erzeugt. Es werden traditionelle antijüdische Filme gezeigt, die zusätzlich zur politischen Situation die Stimmung anheizen. Hinzu kommt natürlich auch das Gefühl der Deklassierung. Große Teile der arabischen Welt begreifen nicht, warum sie zu den am unterentwickeltsten Regionen in dieser Welt gehören. Und diejenigen, die hierher wandern, schaffen zum Teil nicht den sozialen Aufstieg. Was sie von den Mädchen erzählt haben: Wir beobachten seit über zehn Jahren die Zunahme von türkischen Mädchenbanden, die auch sehr aggressiv sind. Das ist weniger ein Ausdruck des Islams, weniger des Türkischseins, sondern eine soziale Deklassierung, durch die Mädchen in die Aggression geraten. Jungs natürlich noch viel mehr. Wir haben es hier mit den Folgen einer gescheiterten Integrationspolitik zu tun.
domradio.de: Auf dem Friedhof dagegen wurden Hakenkreuze gesprayt, lassen also einen rechtsradikalen Hintergrund vermuten. Macht das für Sie einen Unterschied, aus welcher Richtung solche Angriffe kommen?
Ginzel: Einerseits nein, weil sie gleichermaßen bedrohlich sind und ernst genommen werden müssen. Andererseits zeigt sich hier eine schreckliche Kontinuität: Wenn wir auf der muslimischen Seite von Anzeichen einer gescheiterten Integration sprechen, sehen wir hier Zeichen einer mangelnden Integration einer ganzen jungen Generation nach der deutschen Einheit. Man hat sich um diese Jugendlichen nicht gekümmert. Die einzigen, die sich tatsächlich gekümmert hatten, waren die Neonazis. Ich habe dies vom Zusammenbruch der DDR an vor Ort verfolgt. Erstaunlicherweise ist nach allen Umfrageergebnissen die Bevölkerung in Ostdeutschland weniger antijüdisch als die Bevölkerung im Westen. Das sind hier immerhin 10-15% der Menschen, die antijüdische Ressentiments hegen. Aber der Neonazismus ist in Ostdeutschland sehr viel stärker etabliert und strukturiert, vor allen Dingen in den ländlichen und kleinstädtischen Milieus. Er ist zudem viel stärker dezidiert antijüdisch. Hier macht sich die Kontinuität einer nationalsozialistischen Propaganda durch entsprechende alte Führer bemerkbar. Der Jude wird als das Minussystem schlechthin dargestellt. Auch die Kirchen sind für diese Leute jüdisch, sind genauso Hassobjekte für junge Rechtsextremisten wie Synagogen, wie Juden. Und es kommt auch immer wieder zu Schändungen von christlichen Friedhöfen, Kruzifixen und Kirchen. Das ist eine äußerst ernste Situation! Vor allen Dingen hat die Lokalpolitik über ein Jahrzehnt verschlafen, sie hat sich nicht getraut etwas zu unternehmen. Und jetzt haben wir etablierte rechtsextreme Jugendformen, das haben wir ja auch an der Zwickauer Terrorzelle gesehen. Das ist jetzt sozusagen der Nachwuchs, der auf dem jüdischen Friedhof trainiert, was er in Wirklichkeit umsetzen will. Nämlich dieses Land von allem zu befreien, was sie als fremd und anders empfinden.
Günther B. Ginzel über die doppelte Bedrohung für Juden
"Eine schreckliche Kontinuität"
Die deutschen Juden sehen sich wieder einer doppelten Bedrohung ausgesetzt: Es gibt Angriffe von Muslimen und Rechtsextremisten. Der jüdische Publizist Günther B. Ginzel spricht über die Ursachen der Gewalt und der kollektiven Furcht.
Share on
Quelle: