"Allzulange ist in der Kirche Missbrauch geleugnet, weggeschaut und vertuscht worden", betonte der Vorsitzende der Bischofskonferenz auf der Herbstversammlung in Fulda. Er bitte alle Opfer um Entschuldigung und schäme sich für das Vertrauen, das zerstört wurde, für die Verbrechen und für das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was geschehen sei, betonte Marx. Das gelte auch für ihn selbst. "Wir haben den Opfern zu wenig zugehört", erklärte der Kardinal. Die Studie führe nun deutlich und klar vor Augen, dass die Thematik nicht überwunden sei. "Sexueller Missbrauch ist ein Verbrechen“, ergänzte der Kardinal. Und wer schuldig sei, müsse bestraft werden.
Die Untersuchung, die die katholischen Bischöfe in Auftrag gaben, umfasst die Jahre 1946 bis 2014. Alle 27 Bistümer nahmen - für unterschiedliche Zeiträume - an der Studie teil, einige Bistümer wurden vertieft für die gesamte Phase untersucht. In den kirchlichen Akten fand das Forscherteam Hinweise auf 3.677 Betroffene sexueller Übergriffe und auf rund 1.670 beschuldigte Priester, Diakone und Ordensleute.
"Machtstrukturen, die Missbrauch begünstigen"
Staatsministerin a.D. Roswitha Müller-Piepenkötter, Mitglied im Beirat der Studie, sprach von einem "erschreckenden Umfang", den die Studie zeige. "Wenn in einer Größenordnung von fünf Prozent Kleriker durch Missbrauchstaten belastet sind, kann man nicht mehr von Einzelfällen sprechen", betonte Müller-Piepenkötter. Das bedeute vor allem, dass es nicht damit getan sein könne, diese als Einzelfälle zu bedauern und abzuwickeln.
"Das, was die Kirche bis jetzt getan hat, reicht nicht", betonte Marx. Sie lasse Machtstrukturen zu, habe "meist einen Klerikalismus gefördert, der wiederum Gewalt und Missbrauch begünstigt" habe, ergänzte der Kardinal.
"Spitze des Eisbergs"
Auch der Mannheimer Psychiater Harald Dreßing ging in seinen Erklärungen zur Studie auf diese Strukturen ein. "Dazu gehören der Missbrauch klerikaler Macht, aber auch der Zölibat und der Umgang mit Sexualität, insbesondere mit Homosexualität", sagte der Koordinator des Forschungskonsortiums in seiner Präsentiation in Fulda. Eine nähere Beschäftigung mit diesen Strukturen und Themen sei aus seiner Sicht wichtiger als die Analyse der einzelnen Zahlen, die ohnehin nur "die Spitze eines Eisbergs" zeigen könnten.
Der Trierer Bischof Stephan Ackermann erklärte, er habe das Ergebnis der Studie leider erwartet. Es erschrecke ihn dennoch wieder neu. Der Beauftragte für Fragen des sexuellen Missbrauchs innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz verwies ebenfalls auf "deutliche Hinweise auf besondere Risikofaktoren, Strukturen und Dynamiken innerhalb der Kirche, die das Missbrauchsgeschehen begünstigen".
"Abscheu und Wut"
"Je mehr Zeugnisse von Betroffenen ich über die Jahre gelesen oder gehört habe, umso mehr sind meine Abscheu und meine Wut gegen diese Art von Verbrechen gewachsen", erklärte Ackermann und räumte Fehler ein.
Trotz einer Reihe von Maßnahmen müssten die Bischöfe konsequenter und abgestimmter vorgehen. "Alle Maßnahmen zur Intervention und Prävention greifen zu kurz, wenn sie nicht eingebettet sind in eine kirchliche Kultur und in Strukturen, die dazu beitragen, den Missbrauch von Macht zu verhindern."
Folgerungen für die Zukunft
Beiratsmitglied Müller-Piepenkötter sieht in den Ergebissen der Studie eine Grundlage für einen Umgang mit dem Thema, der den Opfern gerecht werde. Die Verantwortlichen in den Bistümern müssten sich konkret und im Einzelfall zu ihrer Verantwortung bekennen. Überdies sei eine Überprüfung von Strukturen und Hierarchien erforderlich. Präventions- und Interventionskonzepte dürfen nicht über die Köpfe der Opfer hinweg entwickelt und durchgeführt werden.
Auch Kardinal Marx forderte, stärker die Opfer einzubeziehen. "Wir spüren, dass es notwendig ist, den Betroffenen zuzuhören und dann Konsequenzen zu ziehen", erklärte der Kardinal. Die Kirche müsse nun neues Vertrauen aufbauen und nicht enttäuschen. Dabei gehe es jedoch nicht um die Rettung einer Institution.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz betonte weiter, er habe Papst Franziskus bereits über die Ergebnisse der Studie informiert. Zugleich kündigte er an, ebenso wie die anderen deutschen Synodenteilnehmer das Thema Missbrauch auch bei der bevorstehenden Jugendsynode im Vatikan zur Sprache zu bringen. Verschiedene Bischöfe aus der Weltkirche hatten wegen des Themas Missbrauch ihre Teilnahme an der Synode abgesagt.
Bischöfe: Weitere Schritte nötig - Wahrheitskommission als Idee
Die katholischen Bischöfe halten nach der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie weitere Schritte für nötig, um das Thema gründlicher aufzuarbeiten. Vielleicht könne es dabei so etwas wie unabhängige "Wahrheitskommissionen" in den Bistümern geben, sagte Kardinal Reinhard Marx.
Auch für eine engere Zusammenarbeit mit dem Staat, der Justiz und dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung sei er grundsätzlich offen, ergänzte der Vorsitzende der Bischofskonferenz. Er könne aber noch nicht den Beratungen der Bischofsvollversammlung vorgreifen.
Die Studie sei zunächst eine Bestandsaufnahme und noch keine Aufarbeitung, ergänzte der Kardinal. "Aber wir haben heute viel über das Wort Aufarbeitung gesprochen: Dazu gehört zuerst, genau hinzuschauen, was wirklich war. Betroffene müssen die Informationen darüber erhalten und auch wissen, wer die Verantwortlichen waren."
Der Trierer Bischof Stephan Ackermann begrüßte die Forderung von Opferverbänden nach einer Verbesserung der Entschädigung für sexuellen Missbrauch. Der Mechanismus zur Zahlung von finanziellen Anerkennungsleistungen für erlittenes Leid und zur Zahlung von Therapien sei bisher sehr unterschiedlich gehandhabt worden und könne sicher optimiert werden, sagte er.
Bonner Opfervereine enttäuscht
Die Opfervereine zweier katholischer Schulen in Bonn haben enttäuscht auf die Missbrauchsstudie der Deutschen Bischofskonferenz reagiert. "Die Studie greift zu kurz, weil darin die meisten Opfer gar nicht erfasst sind", erklärten Winfried Ponsens und Sylvia Witte vom Verein "Missbrauchsopfer Collegium Josephinum Bonn und Redemptoristen" am Dienstag. "Diese Opfer gab es vor allem in kirchlichen Heimen und Internaten zu Tausenden." Auch der Eckige Tisch Bonn, der Opfer am Bonner Aloisiuskolleg vertritt, kritisierte die Studie.
Ponsens und Witte betonten, gerade in Institutionen wie dem Collegium Josephinum sei Gewalt ab den 1950er Jahren weitgehend unentdeckt geblieben, weil diese geschlossene Systeme gewesen seien. Die Opfer forderten deshalb "eine unabhängige Studie mit Zugriff auf das gesamte Aktenmaterial aller Bistümer". Es brauche eine zentrale und öffentlich zugängliche Dokumentation aller Fälle, Ombudspersonen und die Beteiligung der Betroffenen in allen zuständigen Gremien. "Es braucht angemessene individuelle Entschädigungen für das unermessliche lebensbegleitende Leid der Opfer", forderte Ponsens weiter.
Auf die Ankündigung des Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki, in seinem Bistum mögliche Versäumnisse gesondert aufarbeiten zu wollen, reagierte der Verein zurückhaltend: "Verbrechen müssen im Rechtssaat durch staatliche Organe untersucht und geahndet werden und nicht durch verantwortliche Institutionen oder Personen selbst", betonte Ponsens.
Weltliche Mitarbeiter nicht Teil der Studie
Der Verein Eckiger Tisch Bonn kritisierte, dass die von ihm selbst geschätzten mindestens 400 Geschädigten des Bonner Aloisiuskollegs in der Studie der Bischofskonferenz nicht vorkämen. Denn sowohl die Orden als auch deren weltliche Mitarbeiter seien nicht untersucht worden. "Und der Jesuitenorden selbst hat bislang nur einzelne Teile der Missbrauchsgeschichte untersuchen lassen", hieß es. "Heute weinen dieselben Bischöfe Krokodilstränen, die die Archive zur Aufklärung nicht ganz geöffnet haben. Jetzt muss der Rechtsstaat agieren", forderte der Verein.