DOMRADIO.DE: Sie haben aktuell von einem "point of no return" gesprochen für die Kirche bei der Aufbereitung des Missbrauchs. Wohin darf die Kirche Ihrer Ansicht nach nicht wieder zurückfallen?
Bischof Franz-Josef Overbeck (Bistum Essen): Der "point of no return" bedeutet, dass nach einem solchen Ereignis wirklich alles anders ist als vorher. Ich habe den Vergleich gezogen mit dem Fall der Mauer: viele Themen gab es vorher, sie mussten dann anders und neu beantwortet werden. Und so glaube ich, dass wir uns gut nach vorne hin aufstellen müssen im Blick auf den Opferschutz. Und auch im Blick auf eine wirklich sehr konsequente Betrachtung dieser ungeheuerlichen Ereignisse und Verbrechen aus der Perspektive der Opfer und der Folgen für sie. Das darüber Hinausgehende und damit Verbundende ist, dass wir uns natürlich den Rechtsfolgen für die Kirche und damit der Frage nach der Macht und nach den Formen des Umgangs miteinander stellen müssen. Da müssen wir uns wirklich nach vorne entwickeln. Die alte Zeit ist zu Ende.
Aber wir müssen uns auch den großen damit verbundenen Fragen neu zuwenden, die sich daraus ergeben: der Umgang mit Sexualität, mit Geschlechtergerechtigkeit, dem Zölibat und auch den Fragen, was das bedeutet für die Rolle der Frau in der Kirche. Mir scheint, dass diese Fragen - weil sie nicht neu sind - jetzt nach diesem Skandal und mitten in seiner Aufarbeitung ein neues Gewicht gewinnen. Wir können und müssen uns dem stellen.
DOMRADIO.DE: Die Wissenschaftler haben gesagt, es sei ein strukturelles Problem. Auch die Machtfrage haben Sie angesprochen. Oft geben diejenigen, die Macht haben, sie nicht freiwillig ab. "Bei euch soll es nicht so sein", sagt die Bibel. Kann das das Motto sein?
Overbeck: Mir ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Macht für jedes System gut auszunützen, für jede Institution bedeutsam ist und bleibt. Und das gilt auch für uns als Kirche. Hier sind Fragen der Machtkontrolle und der Machtteilhabe angesprochen, die in allen Punkten helfen zu verhindern, dass die Logiken, die zu diesem Skandal geführt haben, auf Dauer wirklich abgeschafft bleiben. Und darum müssen wir uns neu den Fragen des Miteinanders zwischen Männern und Frauen stellen. Und auch den Fragen der Präsenz von Priestern in den Gemeinden und bei den Menschen. Wir müssen gleichzeitig unserer Verantwortung als Bischöfe gerecht werden im Blick auf die Personalpolitik, im Blick auf die Frage der Ausbildung von Priestern und anderen im Seelsorgedienst Tätigen. Aber auch im Blick auf die Art und Weise des Miteinanders in den Gemeinden und vor Ort.
DOMRADIO.DE: Was können Sie sich konkret vorstellen? Die Frage der Stellung der Frauen in der Kirche zum Beispiel ist ja nicht neu.
Overbeck: Papst Franziskus wird nicht müde, diesen Punkt immer wieder zu benennen. Daran hat er jetzt gerade auch bei der Bischofssynode im Blick auf die Jugend erinnert. Ich glaube, es ist auch für uns von Bedeutung, sich neu den Fragen nach dem Amt für die Frau zu stellen: Wie das gehen kann und was das bedeutet.
Wir müssen uns neue Fragen stellen, in welcher Lebensform Priester leben, wenn sie ihren Dienst gut und spirituell überzeugend tun dürfen und können. Und wir werden uns auch den Fragen stellen müssen, wer wie welches Leitungsamt in der Kirche übernehmen kann. Wir müssen uns dabei den ganzen Herausforderungen dieses neuen Miteinanders zwischen Männern und Frauen mutig stellen.
DOMRADIO.DE: Veränderungen sind in der katholischen Kirche in Deutschland nicht ganz so einfach, es gibt 27 Diözesen. Eigentlich ist jeder Bischof für sich selber verantwortlich. Wie hoffnungsvoll sind Sie, dass Veränderungen gemeinsam gelingen können?
Overbeck: Wir haben schon so manchen Mut und aber auch kluge Abwägung bewiesen im Blick auf die Vorgaben, wie wir Pfarreien und Gemeinden leiten können. Die Pfarreien werden selbstverständlich von Pfarrern geleitet. Aber unsere Gemeinden haben zum Beispiel schon Gemeindereferentinnen mit Koordinierungsaufgaben, die gewährleisten, dass überhaupt noch vor Ort jemand vorhanden ist, der oder die die Menschen zusammenhält, zum Beten einlädt und all die Dinge mit ermöglicht, die notwendig sind, um eine lebendige Gemeinde und eine lebendige Präsenz von Kirche zu zeigen. Es bedeutet aber natürlich auch, in den Logiken eines Generalvikariates und einer bischöflichen Verwaltung, entsprechend Frauen in Leitungspositionen zu heben. Wir haben das jetzt im Blick auf die Diözesan-Caritas-Direktorin vor einiger Zeit getan und jetzt auch im Blick auf die Leitung des Schuldezernates. Das sind zwei Hinweise, die deutlich machen um was es geht und da gibt es noch andere.
DOMRADIO.DE: Welchen Zeitplan haben Sie vor Augen?
Overbeck: Man kann unter den heutigen pluralen Bedingungen und mit der Leitungserfahrung der letzten Jahre gut sagen, dass wir für fünf bis zehn Jahre im Vorhinein Perspektiven entwickeln können, die realistisch und umsetzbar sind. Im Blick auf die Frage nach Gemeindeleitung werden wir weiterhin diese Fragen intensivieren, da sich das uns angesichts des Priester- und Pfarrermangels auf kurze Zeit sehr deutlich zeigen wird. Wir werden weiterhin schauen, ob im Blick auf Leitungspositionen entsprechende Positionen mit Frauen besetzt werden. Und ich glaube, dass wir auf diese Weise Schritt für Schritt einen neuen Stil entwickeln, der uns bis hin in die Art und Weise der Personalführung auch bei Priestern und anderen in der Seelsorge Tätigen zeigen wird, welche bedeutsame Rolle Frauen spielen.
Das Interview führte Ingo Brüggenjürgen, Chefredakteur DOMRADIO.DE.