DOMRADIO.DE: Einige nennen Sie einen "Revoluzzer". Gehen Sie da mit oder geht Ihnen das zu weit?
Bischof Dr. Heiner Wilmer SCJ (Hildesheim): Ich verstehe mich überhaupt nicht als Revoluzzer. Ich verstehe mich als jemand, der mit Lust, mit Leidenschaft versucht, das Evangelium zu leben. Ich möchte mich am Wort Jesu orientieren, auch an der Tradition, an der alten Tradition der katholischen Kirche. Ich möchte in dem Sinne bei den Menschen sein, die Lebenswirklichkeit der Menschen ernst nehmen und auch bei ihren Erfahrungen und Sehnsüchten ansetzen.
Auf der anderen Seite sind wir ja als Kirche ein Verband, eine menschliche Struktur, die einen Auftrag hat, der nicht in uns liegt, sondern der von außen stammt und der von Gott kommt.
DOMRADIO.DE: Lassen Sie uns mal ein Jahr zurückblicken auf den 1. September 2018: 3.000 Menschen im Hildesheimer Dom. Der Gottesdienst hat knapp vier Stunden gedauert und um 11.30 Uhr war dann der Moment der Weihe gekommen. Das ist etwas, was die wenigsten von uns tatsächlich nachempfinden können. Was ist Ihnen in dem Moment durch den Kopf gegangen?
Wilmer: Mir ging vor allem viel durchs Herz. Es war für mich sehr bewegend zu erleben, wie viele Menschen in so einem Weihegottesdienst zusammenkommen und wie sehr dieser Weihegottesdienst zutiefst ein Symbol ist. Es geht nicht um eine einzelne Person, die dann zum Bischof geweiht wird. Auch natürlich - ganz klar. Aber es geht vor allem um die Verdichtung der Kirche, um die Einheit – darum, wie wir gemeinsam unterwegs sind, als Pilgerinnen und Pilger auf dem Weg zum Himmel.
Ich war bewegt und wirklich gerührt. Das Wasser stand hier und da schon in den Augen. Ich war gerührt über das tiefe Vertrauen und über das große, warmherzige Entgegenkommen der Menschen.
DOMRADIO.DE: Jetzt ist der Dialog etwas, das für Sie eine große Rolle spielt. Deshalb gab es auch direkt nach der Weihe ein großes Bürgerfest vor dem Hildesheimer Dom. Sie haben in den vergangenen zwölf Monaten viel mit den Menschen innerhalb und auch außerhalb der Kirche gesprochen. Wenn Sie zurückschauen auf das, was Sie da gehört haben: Was hat Sie überrascht? Was haben Sie dazugelernt?
Wilmer: Der Dialog ist für mich grundsätzlich ein Schlüssel. Ich stamme ja aus einer Ordensgemeinschaft und wir sind als Ordensleute schon sehr demokratisch unterwegs. Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass man vielleicht alleine manchmal schnell ist – aber gemeinsam kommt man weiter.
Im Gespräch mit den Menschen habe ich gelernt und gehört, wie groß ihre Fragen sind, ihre Hoffnung, ihre Sehnsüchte und auch ihre Enttäuschungen mit der Kirche, auch Kränkungen aus der Vergangenheit. Es gibt Verletzungen, die noch andauern. Menschen sehnen sich nach Veränderungen, nach Partizipation. Sie sehnen sich nach Glaubwürdigkeit, nach Ehrlichkeit. Sie sehnen sich vor allem danach, dass sie ernst genommen werden.
DOMRADIO.DE: Wenn man die Meldungen durchgeht, die es im vergangenen Jahr über Sie gab, dann sticht immer wieder ein Zitat heraus. Sie haben gesagt: "Der Machtmissbrauch liegt in der DNA der Kirche." Das ist fast schon sprichwörtlich geworden in den vergangenen Monaten. Da gab es aber auch einiges an Gegenwind. Kardinal Woelki sagt zum Beispiel: "Wenn dem so wäre, dann hätte ich schon aus der Kirche austreten müssen." Als Sie das gesagt haben, haben Sie gedacht, dass der Satz so eine Debatte auslöst?
Wilmer: Nein, das habe ich überhaupt nicht gedacht. Es war mir überhaupt nicht klar, dass so viel Wind aufkommt – um nicht zu sagen, dass so viel Sturm aufkommt. Vor allem hatte ich überhaupt nicht damit gerechnet, dass auch außerhalb der deutschen Kirche da so viel Notiz von genommen wird. Ich wollte auf keinen Fall die Kirche kaputt reden. Ich habe auch schon mit Kardinal Woelki darüber gesprochen. Wir verstehen uns gut. Das hat sich auch geregelt. Was ich sagen will – und dazu stehe ich auch: Die Kirche ist heilig, von Gott her ja. Aber sie ist auch sündig, weil sie eine menschliche Institution ist.
Das Fehlerhafte der Kirche ist so alt, wie die Kirche selbst. Das liegt schon im Evangelium. Jesus hatte Stress mit den Jüngern. Er fragt sie einmal: "Worüber habt ihr gestritten?" Die Antwort: "Wer der Größte unter uns sein kann." Man sieht hier, dass das Streben nach Macht und damit auch verbunden der Missbrauch von Macht so alt ist wie die Kirche selbst. Deshalb die Aussage, dass der Machtmissbrauch zur DNA der Kirche gehört.
DOMRADIO.DE: Das ist ein Thema, was auch eine Rolle spielen wird beim sogenannten "Synodalen Weg", der im Dezember beginnt. Das ist ein Beratungsprozess, bei dem die Bischöfe mit den Laien auf Augenhöhe diskutieren und versuchen, gemeinsam in die Zukunft zu gehen. Da stehen auch Themen wie Macht, Missbrauch, Zölibat, Frauenämter zur Debatte. Was erwarten Sie sich von dem Prozess?
Wilmer: Ich erwarte mir vom Prozess zum ersten, dass wir drängende Themen ernsthaft angehen. Zum zweiten erwarte ich mir davon, dass wir partizipativ zusammenkommen, dass nicht nur die Bischöfe darüber befinden, sondern dass wir zusammen mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken, mit Frauen und Männern in Deutschland, mit Ordensleuten in den Dialog gehen – auch mit Menschen, die ganz von außen kommen und die keine Funktion haben in der Kirche, aber doch ein tiefes spirituelles Anliegen. Ich erwarte, dass wir mit ihnen zusammenkommen, um gemeinsam zu ringen, gemeinsam ins Gespräch kommen. Ich erwarte mir davon, dass wir eine neue Gesprächskultur finden und in ein anderes Verhalten kommen.
Ich erhoffe mir allerdings auch, um es auch ein bisschen kritisch anzumerken, dass wir nicht nur den Binnenblick haben und uns nicht nur auf kirchliche Strukturen konzentrieren. Das müssen wir – ganz klar. Aber ich finde, wir sollten auch zu Aussagen kommen und zu einer Relevanz für die Gesellschaft. Was bewegt Frauen und Männer auf der Straße? Wo sind wir bei gesellschaftlich relevanten Themen, wie zum Beispiel Klima, wie zum Beispiel Ausbeutung, wie zum Beispiel ungerechten Strukturen, wie zum Beispiel überhöhten Mietkosten, wie zum Beispiel Ausbeutung der Kleinen, wie zum Beispiel bei Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen? Diesen Blick sollten wir beim synodalen Prozess auf keinen Fall verlieren.
DOMRADIO.DE: Lassen Sie uns in die Zukunft schauen. Ich habe mal nachgerechnet: Sie sind jetzt ein Jahr im Amt. Wenn Sie mit 75 emeritierten, dann ist es das Jahr 2036. Die deutsche Kirche im Jahr 2036. Wie wird die aussehen?
Wilmer: Wie sie aussehen wird, weiß ich nicht. Ich kann Ihnen aber sagen, worauf hin ich arbeiten will. Ich würde schon gerne daran arbeiten, dass wir stärker Maß nehmen am Evangelium, an der Botschaft Jesu: zurück zur Quelle, zum Ursprung – zurück zur Attraktivität. Zur Frage: Woran liegt es eigentlich, dass im Evangelium zur Zeit Jesu die Menschen begeistert waren – fasziniert waren vom Mann Jesus. Einige waren auch entsetzt. Aber niemand blieb neutral. Diese Ausstrahlung würde ich gerne wieder erneuern.
Wir müssen Antworten geben auf die Fragen: Wie und wo sind wir bei den Menschen und bei ihren eigentlichen Themen? Wo nehmen wir die heutigen Lebenswirklichkeiten ernst? Und wo sind wir eine Hilfe? Ich sage mal: Der Jesus, dieser Mann aus Nazareth, hatte einen Spitznamen. Der Spitzname lautete nicht "Verkündiger" sondern "Heiland". Das heißt für mich heute: Wo sind wir heilend unterwegs? Wo sind wir bei Menschen, die gebrochen sind, die verstört sind, die verwundete Herzen haben? Wo sind wir im guten Sinne heilend bei den Menschen? Wo sehen wir das Fragmentarische und gehen es irgendwie an? Das ist ein Schlüssel: Zunächst heilen und dann auch verkündigen. Aber nicht mit Theorie ansetzen. Und schon gar nicht "top-down", also von oben nach unten.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.