Paritätischer Wohlfahrtsverband zur Armutssituation in Deutschland

"Wir brauchen eine ganze Palette von Maßnahmen"

Deutschland wird immer ärmer. Das ergibt eine neueste Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. "Wir brauchen eine ganze Palette von Maßnahmen", sagt der Geschäftsführer Dr. Ulrich Schneider im domradio.de-Interview.

 (DR)

domradio.de: Was bedeutet "Armut" in Deutschland?

Dr. Ulrich Schneider (Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands): Armut bedeutet vor allen Dingen nicht, dass man erst dann arm ist, wenn man von Pfandflaschen leben muss oder unter Brücken schläft. Das wird häufig verwechselt. Für uns als Wohlfahrtsverbände bedeutet Armut etwas anderes. Wir sprechen von Armut, wenn man so wenig Geld hat, dass man am ganz normalen Alltag nicht teilhaben kann. Wir sprechen von Armut, wenn man seine Kinder aus dem Musikunterricht oder aus dem Sportverein abmelden muss. Wir sprechen von Armut, wenn man nicht mitmachen kann, wenn andere Ausflüge machen oder mal eine kleine Urlaubsreise. Arm ist man dann, wenn man nicht mehr dabei ist - ausgegrenzt ist. Das fühlen Kinder und auch Erwachsene ganz schnell.

domradio.de: In Ihrem Armutsbericht ist vor allem von einer stark wachsenden Altersarmut die Rede. Warum trifft es gerade alte Menschen in Deutschland?

Schneider: Es wird zumindest immer stärker. Im Moment sind sie, was die Grundsicherungsleistung, also Sozialhilfe anbelangt, weniger betroffen als Erwerbslose. Das wird sich aber schnell ändern, wenn in den nächsten zehn bis 15 Jahren Generationen Rente bekommen, die nicht mehr die sogenannte normale Erwerbsbiographie mitbringen – 40 bis 45 Versicherungsjahre und guten Verdienst. Hier wird es darum gehen, dass immer mehr Menschen ins Alter kommen, die auch langzeitarbeitslos waren oder mehrfach arbeitslos waren, sich immer von einem Job zum nächsten hangelten oder im Niedriglohnsektor gearbeitet haben. Für all diejenigen bietet die Rente keinen Schutz vor Armut.

domradio.de: Das hat ja zum Teil sogar sehr schwere Folgen. Laut dem Bericht und einer Studie des Robert Koch Instituts, sterben arme alte Menschen im Schnitt zwischen acht und zehn Jahre früher als Wohlhabende. Woran liegt das?

Schneider: Arme haben in der Regel ein deutlich belasteteres Leben. Wer stets hart arbeiten muss oder wer häufig, auch schon zu Zeiten der Erwerbslosigkeit, gesundheitlich stark eingeschränkt ist und deswegen arm ist, der hat natürlich eine schwächere Lebenserwartung als jemand, der zur erwerbsfähigen Zeit gesund ist, einen Job hat und ansonsten auch wenig Sorgen hat. Das ist ein sehr trauriger Fakt.

domradio.de: Es gibt aber auch Kritik an solchen Statistiken über Armut. Der Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik, Walter Krämer, sagt, die Art und Weise wie Armut bemessen wird sei "unseriös und schwachsinnig". Er kritisiert, dass Armut in Prozentwerten berechnet würde, die sich wiederum am allgemeinen Einkommen orientieren. Was sagen Sie zu dieser Kritik?

Schneider: Naja, diese Kritik ist ja nicht neu. Ich kenne Herrn Krämer jetzt nicht, aber er ordnet sich ein in eine ganze Batterie von Kritikern. Die sagen immer, die 60 Prozent Grenze würde Armut aufblähen und es sei doch eigentlich eine Ungleichheit und keine Armut. Gelegentlich führen sie auch Studenten an, die mitgezählt würden. Das tun sie alles um die Statistiken in Abrede zu stellen. Wir sagen, dass nach unserer Erfahrung, diese 60 Prozent sehr gut geeignet sind, um Armut zu markieren. Es ist in der Tat wenig Geld, vor allem wenn Familien oder Kinder eine Rolle spielen. Das ist vergleichbar mit Hartz IV und unter Hartz IV, also können wir da von Armut sprechen. Ich glaube, dass solche relativ forsche Kritik an diesem seit 1982 geübten Modell Armut zu messen, in erster Linie das Ziel hat, Armut klein zu reden und deutlich zu machen, hier in Deutschland sei doch alles ganz prima. Hier gehen nun mal die Sichtweisen ganz stark auseinander.

domradio.de: Sie sagen auf jeden Fall die Armut steigt. Wie kommen wir als Gesellschaft aus diesem Trend wieder heraus?

Schneider: Nicht nur ich sage, dass die Armut steigt. Das Statistische Bundesamt sagt, die Armut steigt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung sagt, die Armut steigt. Sogar das wirtschaftsnahe Institut,  IW in Köln (Institut der Deutschen Wirtschaft) sagt, die Armut steigt. Auch Eurostat sagt, die Armut steigt. Wenn nun all diesen wirklich sehr seriösen Instituten gesagt wird, das sei alles unseriös, dann stimmt etwas nicht. Wie man nun da rauskommt? Wir brauchen eine ganze Palette von Maßnahmen. Eine Palette, die den vielfachen Gründen gerecht wird. Wir brauchen vor allen Dingen mehr Hilfen für langzeitarbeitslose Menschen, bis hin auch zu öffentlich geförderter Beschäftigung für die, die es auf dem ersten Arbeitsmarkt einfach nicht mehr schaffen. Wir brauchen Anstrengungen was Wohnraum anbelangt - uns fehlt bezahlbarer Wohnraum für Menschen, die wenig Geld haben. Sogar für Menschen mit mittlerem Einkommen wird es manchmal ganz schwierig. Wir müssen den sozialen Wohnungsbau wieder ausbauen. Wir müssen mehr Bildungsanstrengungen leisten für Kinder in armen Haushalten. Wir müssen uns auch mit einer guten Rentenreform und einer Reform der Altersgrundsicherung wappnen, damit wir dieses Problem der Altersarmut in den Griff kriegen.

Das Interview führte Heike Sicconi.


Dr. Ulrich Schneider / © Hoffotografen, (Paritätischer Wohlfahrtsverband)
Quelle:
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