Mathebotschafter sieht Nähe von Religion zur Mathematik

Wie ist die Welt zu verstehen?

Was war eigentlich "am Anfang" und wie steht es um die Unendlichkeit? Professor Norbert Herrmann, Botschafter der Stiftung Rechnen, blickt am Tag der Mathematik auf ihr Verhältnis zur Religion.

Symbolbild Wissenschaft, Mathematik / © metamorworks (shutterstock)
Symbolbild Wissenschaft, Mathematik / © metamorworks ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Naturwissenschaft und Glaube, das kann doch eigentlich nicht zusammenpassen, oder?

Prof. Dr. Dr. Norbert Herrmann (Mathematik-Professor, Mathebotschafter der Stiftung Rechnen und Autor): Das sieht man eigentlich als völlig getrennte Dinge an, aber das ist es ganz und gar nicht. In Wirklichkeit sind Mathematiker Philosophen. Das ist wirklich eine erstaunliche Geschichte, dass wir uns sehr viel mit Logik befassen. Logik ist eines der wesentlichen Punkte in der Mathematik. Und was macht die Philosophie anderes? Die sitzt da in ihrer Logik und versucht, sie zu begreifen.

Viele von den Philosophen haben durchaus Mathematik studiert und nutzen die Logik in der Mathematik aus, um sie in der Philosophie zu neuen Erkenntnissen zu bringen. Ich nenne nur Bolzano, Heidegger und viele andere. Die haben richtig Mathematik studiert und sind jetzt in der Philosophie tätig. Und so haben Mathematiker auch die Idee: Was hängt denn zusammen mit der Welt? Wie kann man sie weiter bewerten? Und da liegt die Religion natürlich sehr nahe.

DOMRADIO.DE: Jetzt haben Sie gesprochen von der Verbindung von Philosophen und Mathematikern. Gibt es denn auch die Verbindung von Theologen und Mathematikern?

Herrmann: Oh, das ist immer eine ganz erstaunliche Welt. Die Biologen, die Chemiker, die Naturwissenschaftler, die Physiker, die benutzen alle nur die Mathematik, die benutzen nur die Ergebnisse der Mathematik. Die treiben aber nicht richtig Mathematik. Und damit ist bei denen ein falsches Bild der Mathematik vorhanden. Die denken, Mathematik ist dieses Anwenden, dieses Rechnen. Aber sie benutzen ja nur die Mathematik und entwickeln die Formeln nicht. Wir entwickeln die ganze Welt und die Formeln und wir analysieren und versuchen das weiter zu betreiben. Das machen die ja nicht. Die wollen ihre Welt haben und benutzen dazu Mathematik, aber das ist eigentlich nicht richtig Mathematik, was die machen, sondern nur eine Anwendung der Mathematik. Aber die Philosophen, die Religionswissenschaftler, die gehen richtig logisch so vor wie die Mathematiker.

DOMRADIO.DE: Dann kommen wir doch mal zu einer ganz praktischen Überlegung von verschiedenen Seiten, zum Beispiel: Wie hat es denn alles angefangen mit der Welt? Der Theologe sagt: Das war Gott. Und der Naturwissenschaftler sagt: Das war der Urknall. Wie kommen wir denn da zusammen?

Herrmann: Das ist eine sehr interessante Frage und die kann man doch zusammen betrachten. Man weiß ja, glaube ich von der Physik her, dass vor ungefähr 14 Milliarden Jahren dieser Urknall war. Das war vielleicht Gott. Ich weiß es nicht genau. Aber lassen wir das mal noch offen. Vor 14 Milliarden Jahren – da fragt man natürlich: Was war denn bitte vor 15 Milliarden Jahren? Gab es da gar nichts? Was ist denn da gewesen?

Und jetzt komme ich mit der Antwort. Einstein hat damals festgestellt, in einer unglaublichen Arbeit, dass nicht die Zeit konstant absolut ist, sondern dass sie sich ändert. Die Zeit ist nicht konstant. Er sagt, wenn man sich schnell bewegt, wird die Zeit langsamer. Und gerade am Anfang, vor 14 Milliarden Jahren, da war eine ungeheure Geschwindigkeit im Werden. Da ist die Zeit so verlangsamt, da hat Albert Einstein zusammen mit Mathematikern eine Theorie aufgestellt und einen Maßstab aufgebaut, der im Weltall gilt. Dieser Zeitpunkt - 14 Milliarden Jahre - war unendlich lange entfernt. Vor unendlich langer Zeit war das. Und was vor unendlich langer Zeit war, kann ich gar nicht fragen.

DOMRADIO.DE: Und da sind wir wieder bei der Religion?

Herrmann: Ja! Und damit haben wir den Punkt, dass wir sagen: Am Anfang, das ist das A und O, der Anfang und das Ende. Und "am Anfang", das ist unendlich lange her. Das sind nicht 14 Milliarden Jahre. Nur in unserem Verständnis, was wir hier als Mathematik, als Physik, als Welt um uns herum sehen. Wir haben die euklidische Geometrie, da sind das 14 Milliarden Jahre. Aber im Weltraum-Maßstab ist das unendlich lange. Und das ist der Unterschied.

DOMRADIO.DE: Jetzt merkt man, das ist natürlich eine unheimlich komplizierte Sache. Wenn ich mir jetzt also eine Laienfrage stellen würde: In den Religionen sind ja Jenseitsvorstellungen unheimlich wichtig, da kommen wir alle in den Himmel. Was sagt denn der Mathematiker, wäre denn da eigentlich überhaupt für alle Platz?

Herrmann: (lacht) Da sind schon viele Philosophen und Mathematiker gestolpert und haben überlegt, wie das funktioniert. Ich weiß nicht genau, wer überlegt hatte, dass ja der Körper in die Erde gelegt wird. Dann kommt das Würmchen und frisst ein bisschen vom dem Körper auf. Und dann kommt der Vogel und frisst das Würmchen auf. Und das Würmchen hat also von mir einen Teil gefressen. Dann ist es im Vogel drin und der Vogel wird von dem Fisch gefressen, von einem Hai – und den Hai, den essen wir dann. Dann kommt das Teil, was dort unten im Erdboden lag, bei dem anderen Menschen 1.000 Jahre später an eine ganz andere Stelle.

Und wenn wir dann auferweckt werden, dann zanken sich die beiden. Wem gehört denn dieses Teil jetzt? Und das ist ja zigtausend Mal, millionenfach passiert. Also das scheint doch mit dem Wiederauferstehen etwas schwierig zu sein. Aber das sind auch menschliche Vorstellungen. Vielleicht ist die Welt ja doch irgendwie philosophisch ganz anders zu verstehen.

DOMRADIO.DE: Als wir hin- und hergemailt haben, als ich Sie angefragt hatte für das Interview, da haben Sie mir eine sehr schöne Mail geschrieben. Da haben Sie geschrieben, das wäre doch mal eine schöne Frage: Was hat Gott gemacht, bevor er die Welt erschaffen hat? - Er hat die Hölle gemacht für Menschen, die solche Fragen stellen.

Herrmann: (lacht) Das ist eine schöne Antwort, die soll Augustinus in einem seiner Bücher aufgeschrieben haben.

Das Interview führte Heike Sicconi.


Quelle:
DR