domradio.de: Sie sind CDU-Politiker und langjähriges Mitglied im Bundestag, waren aber auch Novize bei den Jesuiten. Jetzt haben Sie ein Buch geschrieben mit dem Titel: "Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?" Kommen Ihnen denn angesichts dessen, was in der Welt gerade alles so passiert, Zweifel an der Existenz Gottes?
Heiner Geißler (Politiker und Autor): Ja, natürlich. Aber nicht nur wegen dem, was jetzt im Moment passiert. Das hat sich ja in den letzten zwei- bis viertausend Jahren nahezu minütlich wiederholt - und es hat sich nichts geändert. Die Menschheit hat sich in den Bedingungen verbessert. Aber trotzdem bleibt natürlich die Frage nach der Existenz eines allmächtigen, eines allwissenden, und auch eines liebenden, eines gütigen Gottes, so wie das die katholische und evangelische Theologie behauptet. Und den gibt es nicht.
domradio.de: Die gängige Antwort auf die Frage: "Warum hat Gott das zugelassen?" lautet: Weil der Mensch einen freien Willen hat und sich eben auch für das Böse entscheiden kann. Diese Erklärung funktioniert aber nicht bei Naturkatastrophen oder wenn Kinder sterben. Müssen wir nicht vielleicht auch einfach hinnehmen, dass wir nicht alles begreifen können?
Geißler: Man kann nicht alles mit dem Verstand begreifen. Aber die Erklärung, die Sie gerade gegeben haben mit dem freien Willen, ist ja, dass Gott geliebt werden will, und dass deswegen der Mensch frei sein muss, ihn zu lieben oder auch nicht zu lieben. Was ist denn das für ein Gott, der geliebt werden will und dabei in Kauf nimmt, dass die Menschen Auschwitz einrichten, dass es einen Pol Pot gibt, nur damit er geliebt werden kann? Das ist eine so blasphemische Interpretation, dass man das einfach nicht akzeptieren kann. Und genau das ist das Problem. Die katholische und evangelische Theologie haben Gottesbilder, die sich gegen Gott richten.
domradio.de: Milliarden Christen auf der Welt beten: "Ich glaube an Gott, den Allmächtigen". Ist das aus Ihrer Sicht falsch?
Geißler: Das ist mit Sicherheit falsch. Es ist das Glaubensbekenntnis von Nicäa, das ist eines der ersten Bekenntnisse und daran glauben auch die Evangelischen und die Orthodoxen. Aber wenn man das sagt, dann muss man dann auch konsequent sagen: Wenn ich an den allmächtigen Gott glaube, den Schöpfer des Himmels und der Erde, aller sichtbaren und auch unsichtbaren Dinge, dann ist er ja auch verantwortlich für das Leid, für das Unglück, für das Elend. Verantwortlich für die Tsunamis, und was sonst alles an Schrecklichem auf der Erde passiert. Wer soll denn sonst dafür verantwortlich sein? Entweder gibt es ihn, und er ist verantwortlich, oder es gibt ihn eben nicht.
domradio.de: Sie schreiben in Ihrem Buch über die Kirchen: "Ihre Gotteshäuser sind leer, ihnen laufen die Menschen weg, denn sie geben auf diese elementaren Fragen […] keine ehrlichen Antworten." (Seite 62) Das hört sich ziemlich zornig an...?
Geißler: Das ist es auch, weil man so tut, als ob es eine Antwort gäbe, anstatt dass man ehrlich ist. Von Hiob angefangen bis hin zu den heutigen Denkern wie Hans Küng oder auf der evangelischen Seite Bonhoeffer sagen alle eindeutig: Es gibt keine Erklärung für die Frage der Theodizee. Die Kirche tut so, als ob sie eine Erklärung hätte. Die ist aber nicht glaubhaft.
domradio.de: Kann man denn trotzdem Christ sein, auch wenn man an Gott zweifelt?
Geißler: Das kann man. Der Glaube ist nicht etwas Selbstverständliches. Man kann an Gott glauben, aber man kann auch an Gott nicht glauben. Da bin ich nicht der einzige, der diese Probleme hat. Der heutige Papst sagt, er hat leere Stunden, wo der Glaubenszweifel auch zu ihm gekommen ist. Als ein denkender Mensch kann man ohne Zweifel nicht auskommen.
domradio.de: Sie sind ja nicht nur Autor, sondern waren politisch in der CDU sehr aktiv. Wenn Sie auf das aktuelle politische Geschehen schauen, sind Sie dann froh, dass Sie da nicht mehr aktiv mitmischen und Lösungen finden müssen?
Geißler: Darüber kann man nicht froh sein. Und ich ziehe mich auch nicht ganz zurück, sondern bin ja publizistisch tätig und äußere meine Meinung in Interviews. Ich bin auch in Kontakt zu den führenden Leuten der CDU und erlaube mir dann, den einen oder anderen Hinweis zu geben, was man machen muss.
domradio.de: Die Union hat nicht mit der Beliebtheit von Martin Schulz, dem Kanzlerkandidat der SPD, gerechnet. Was für einen Hinweis würden Sie Ihren Parteikollegen bei diesem scheinbar unlösbaren Problem geben?
Geißler: Das mit Martin Schulz in der SPD ist eigentlich ein lösbares Problem. Denn was er jetzt vorgeschlagen hat, die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I, verbunden mit der Qualifizierung der Arbeitslosen, kann man nicht ablehnen. Dem muss man zustimmen, das habe ich auch den Leuten ganz oben in der CDU gesagt. Es wäre die größte angenommene Dummheit, wenn man das ablehnen würde. Aber man muss zum Beispiel darüber reden, was Qualifizierung bedeutet. Das kann ja nicht bedeuten, dass man einen Betonmischer weiterbildet zum EDV-Fachmann. Er muss in dem Berufsbereich, den er gelernt hat, eine Weiterbildung bekommen. Darüber muss man mit der SPD reden, das kann man nicht zum Gegenstand einer parteipolitischen Auseinandersetzung machen.
domradio.de: Man muss reden, sagen Sie, zum einen mit der SPD, zum anderen mit anderen Ländern. Diese Woche wird Bundeskanzlerin Merkel voraussichtlich noch zu US-Präsident Trump reisen. Was würden Sie ihr raten? Wie kann man mit so einem präpotenten Politiker umgehen?
Geißler: Ich bin nicht der Ratgeber. Aber es ist an sich klar, was da gesagt werden muss: Wir können das nicht akzeptieren. Den Menschen an sich können wir nicht wegdiskutieren, der ist da. Es muss klar sein, dass das einer ist, der lügt, der betrügt, der keine Steuern zahlt, der jetzt gegen Ausländer spricht und vor allem auch gegen Frauen. Man kann dessen Auslassungen natürlich akzeptieren. Aber gleichzeitig steht die Politik ja nicht still. Man muss darauf drängen, dass er auch durch seine Umgebung dazu gebracht wird, dass die Fundamente der westlichen Politik nicht angetastet werden, die NATO zum Beispiel. Das ist ja bereits gelungen. Merkel muss Trump aber auch sagen: Es gibt zur Europäischen Union überhaupt keine Alternative, ganz im Gegenteil. Europa muss stärker werden - und das ist auch ein Problem der Vereinigten Staaten: Die Europäische Union ist die größte Wirtschaftsmacht auf der Erde mit 500 Millionen Mitbürgerinnen und Bürgern. Die werden sich diese Prädominanz der trumpschen Politik in den Vereinigten Staaten nicht gefallen lassen.
domradio.de: Trump ist das eine mit seinem "America First". Es gibt auch ansonsten überall Strömungen, Nationalismus gewinnt an Zuspruch. Sie sind im Jahr 1930 geboren - Sie haben also das Naziregime durchaus noch bewusst miterlebt. Morgen wird in den Niederlanden gewählt. Fühlen Sie sich manchmal an diese Zeiten erinnert?
Geißler: Daran muss man sich erinnern. Ich bin als Student damals in die CDU eingetreten, weil die CDU die einzige Partei in den 1950er Jahren war, die für Europa eingetreten ist. Wir als junge Menschen sind deswegen politisch aktiv geworden, weil wir den Nationalstaat nicht mehr haben wollten. Dieser Nationalstaat ist natürlich etwas völlig Rückwärtsgewandtes und etwas, was vor allem auch jungen Menschen keine Zukunft bieten kann. Eine meiner Enkeltöchter war in England, als der Brexit verabschiedet wurde. Sie war da Lehrerin an einer Schule. Ich habe sie gefragt, wie denn die Schülerinnen und Schüler reagiert haben. Da hat sie gesagt: "Die haben alle bitterlich geweint. Und haben gesagt: Die Brexit-Wähler, das waren vor allem Leute, die älter waren als 50 Jahre, die haben uns die Zukunft gestohlen." Die Populisten stehlen jungen Menschen die Zukunft, denn der Nationalstaat kann natürlich nicht die Hoffnung von uns Menschen sein. Wir brauchen nicht weniger Europa, sondern mehr Europa. Und das muss auch Angela Merkel Donald Trump klipp und klar sagen.
domradio.de: Auch direkt um uns herum wird Nationalismus stärker. Was muss hier in Deutschland passieren, um beispielsweise auch ein weiteres Erstarken der AfD zu verhindern?
Geißler: Also erstens muss man die bekämpfen. Man darf nicht versuchen, Stichwortgeber zu sein, wie das zum Teil die CSU in der Auseinandersetzung um die Flüchtlingspolitik gewesen ist, und glauben, dadurch könnte man Stimmen am rechten Rand gewinnen. Ganz im Gegenteil: Man muss das ganz klar ablehnen. Aber wir müssen das, was die Menschen an Ängsten und Sorgen damit verbinden, natürlich auch beantworten. Wichtig ist, dass wir in Deutschland vor allem sozial stabil bleiben. Denn Trump hat ja vor allem wegen dieser amerikanischen Verhältnisse gewonnen, da haben 40 Millionen Leute keine Krankenversicherung gehabt. Das alles gibt es bei uns nicht. Der Sozialstaat ist ein Fundament für die Demokratie, zusammen mit einer freien Wirtschaft. Das muss natürlich geschützt und erhalten bleiben. Deswegen habe ich ja vorhin schon gesagt, es hat eine gute Zusammenarbeit zwischen CDU und SPD gegeben, und das muss sich auch in der Zukunft fortsetzen.
domradio.de: Welche Rolle spielen die Kirchen bei der Erhaltung dieses sozialen Friedens?
Geißler: Leider Gottes nur eine geringe. Die Kirchen haben ja in der Flüchtlingspolitik eine klare Position bezogen, vor allem der Kardinal von München und auch Bischof Bedford-Strohm von der evangelischen Kirche. Das ist alles in Ordnung. Aber sonst verstecken sich die Kirchen, wenn es darum geht, eine Weltordnung zu konzipieren, die natürlich eine andere ist als die kapitalistische globale Wirtschaftsordnung. Auch der Papst hat gesagt, dass diese Wirtschaft tötet. Wir erwarten eigentlich wie vor 60 Jahren bei der sozialen Marktwirtschaft, dass die Kirchen auch der Politik ein ethisch begründetes Konzept vorschlagen. Sie sollen eine neue gerechte Sozial- und Wirtschaftsordnung auf der Welt finden, die das Gegenteil von dem ist, was heute vorhanden ist, wo das Geld alles diktiert. Im Grunde muss man das Evangelium in seiner politischen Dimension begreifen. Dann würde man auch in der Frage richtig liegen, wie in Deutschland vor 60 Jahren, wo die soziale Marktwirtschaft eine ethische Fundamentierung hatte. Deswegen geht es uns in Deutschland heute auch wesentlich besser als anderen Ländern.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.