Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss, Hausarrest und Demonstrationsverbote – nach den Terroranschlägen in Paris im November 2015 wurde in Frankreich der Ausnahmezustand ausgerufen und über einen Zeitraum von knapp zwei Jahren verlängert.
Unter dem Schlagwort "Sicherheit" akzeptierten die Bürger weitgehend protestfrei Einschränkungen ihrer Grundrechte: Sicherheit vor Freiheit.
Handlungsfähigkeit gegenüber Grundrechten
Das Beispiel Frankreich zeigt: Der Notstand, lange ein theoretisches Konstrukt, ist in Europa angekommen. Terroranschläge lösen neue Diskussionen um Sicherheit, Staatsbefugnisse und Bürgerrechte aus.
Zwei Prinzipien stehen sich gegenüber: Auf der einen Seite die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisenzeiten, auf der anderen die Unantastbarkeit der Grundrechte. Die ursprüngliche Fassung des deutschen Grundgesetzes sah keine Regelungen für den Krisenfall vor. Erste Pläne für eine Notstandsverfassung gab es 1958.
Entsprechende Gesetzentwürfe wurden 1960 und 1963 diskutiert, allerdings nicht umgesetzt. Es fehlte im Bundestag die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Änderung des Grundgesetzes.
Sorge um die Demokratie
Das ändert sich 1966 mit dem Zusammentreten der ersten großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger. Die geplanten Notstandsgesetze lösen heftige Proteste aus; Studenten, Gewerkschafter und andere Aktivisten demonstrieren.
Plakate mit Schriftzügen wie "Es ist die Pflicht eines jeden Demokraten, den Notstandsstaat zu bekämpfen" oder "Willst du Krieg im Frieden führen, musst den Notstand Du probieren" zeigen: Die Demonstranten treibt die Sorge um die Demokratie.
23 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 35 Jahre nach der Weimarer Republik sind die Erfahrungen fragiler Rechtsstaatlichkeit und der Beschneidung von Bürgerrechten noch stark präsent, die funktionierende deutsche Demokratie vergleichsweise jung.
"SPD und CDU: Lasst das Grundgesetz in Ruh!"
Bilder, die sich einprägen: Am 11. April 1968 wird der Studentenführer Rudi Dutschke auf offener Straße angeschossen. Einen Monat später protestieren Zehntausende friedlich beim "Sternmarsch auf Bonn" gegen die geplanten Gesetzesänderungen, darunter auch der Schriftsteller Heinrich Böll. Die Lage ist emotional aufgeladen. "SPD und CDU: Lasst das Grundgesetz in Ruh!", hallt als Sprechchor durch die Straßen.
Gestritten wird über das Gesetz auch im Parlament. In der Opposition kritisiert der spätere Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) die geplanten Post- und Telefonkontrollen. Die Grundrechte müssten im "Interesse des Vertrauens der Bürger in den Staat" geschützt werden.
Außenminister Willy Brandt (SPD), der ein Jahr später Bundeskanzler einer sozialliberalen Koalition wird, befürwortet die Notstandsgesetze, versichert aber: "Wer einmal mit dem Notstand spielen sollte, um die Freiheit einzuschränken, wird meine Freunde und mich auf den Barrikaden zur Verteidigung der Demokratie finden, und dies ist ganz wörtlich gemeint."
FDP stimmte gesschlossen gegen Notstandsgesetze
Am 30. Mai 1968 wird das Grundgesetz mit Stimmen der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD geändert, die Zwei-Drittel-Mehrheit ist mit 384 "Ja" Stimmen erreicht. Die FDP stimmt geschlossen dagegen, ebenso wie ein CSU-ler und 53 SPD-Abgeordnete.
Die Änderungen sollen die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisenzeiten sichern, etwa bei Naturkatastrophen, Kriegen oder Aufständen. Im Falle einer inneren oder äußeren Notlage kann ein reduziertes Gremium Entscheidungen treffen. Zudem ermöglichen die Notstandsgesetze Einschränkungen der Grundrechte eines jeden Bürgers.
So kann das Brief-, Post und Fernmeldegeheimnis außer Kraft gesetzt oder die Bundeswehr zur "Bekämpfung militärisch bewaffneter Aufständischer" im Inneren eingesetzt werden – auch gegen die eigene Bevölkerung.
Debatte um Notstandsgesetz hat Spuren hinterlassen
Einen Ausnahmezustand wie in Frankreich sieht das Grundgesetz nicht vor. Und auch der Notstand kam bisher in Deutschland nicht vor. Spuren hat die Debatte dennoch hinterlassen: Änderungen, die das Grundgesetz oder die Grundrechte betreffen, werden von öffentlicher Seite skeptisch aufgenommen und diskutiert – etwa beim Finanzausgleich, der Asylpolitik, dem Einsatz der Bundeswehr im Inneren oder Machtverschiebungen zwischen Bund und Ländern.