Buchautor Dürr über das Erbe von Matthias Erzberger

"Der Erste Weltkrieg war ein Wendepunkt"

Vor 100 Jahren, am 26. August 1921, wurde Matthias Erzberger, eine der prägenden Figuren der katholischen Zentrumspartei, ermordet. Erzberger-Biograph Dürr spricht über die Bedeutung des katholischen Glaubens für dessen politisches Handeln.

Autor/in:
Von Joachim Heinz
Der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger  (HdGBW)
Der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger / ( HdGBW )

Katholische Nachrichten-Agentur: Herr Dürr, welche Bedeutung hatte der katholische Glaube für Erzberger?

Benjamin Dürr (Politologe und Erzberger-Biograph): Erzberger ist in einer sehr christlichen Familie aufgewachsen und hat zeit seines Lebens den Glauben als Grundlage seines Handelns gesehen. In der Praxis, also im politischen Betrieb, ging das teilweise unter. Aber ich glaube, sein Glaube war ein starker Motor für sein Engagement.

KNA: Wie reagierte Erzberger, als seine ältere Tochter Maria kurz vor ihrem 18. Geburtstag ankündigte, in ein Kloster des Karmelitenordens in den Niederlanden eintreten zu wollen?

Dürr: Dass seine Tochter ins Kloster ging, dazu noch im Ausland, ist ihn hart angegangen. Er hat Marias Schritt akzeptiert, weil er daran glaubte, dass das ihr Wunsch, ihre Berufung war. Obwohl er als Politiker sehr engagiert war und deswegen kaum Zeit für die Familie hatte, war er doch ein liebevoller Vater.

KNA: Erzberger war einer der ersten "modernen" Politiker. Wo ist er uns nah - wo eher fern?

Dürr: Er war sehr modern, als es darum ging, die Macht der Medien zu nutzen. Er hatte seine eigene Presseagentur, über die er Artikel und Meinungsstücke verkaufte. Dadurch war er ständig in den Zeitungen präsent. Außerdem hat er bestimmte Positionen bezogen, die wir heute noch als zukunftsweisend betrachten können. Etwa sein Einsatz für soziale Gerechtigkeit. Als einer der ersten Konservativen machte er sich für die Belange der einfachen Bürger stark. Auf der anderen Seite war er ein Kind seiner Zeit.

KNA: Das heißt?

Dürr: Er war sehr nationalistisch, vor allem in der ersten Hälfte seines Lebens. Teilweise formulierte er Ansichten, die wir heute nicht akzeptieren würden. Dazu gehören antisemitische Äußerungen oder die Auffassung, wonach Bewohner der Kolonien Menschen zweiter Klasse seien.

KNA: Dessen ungeachtet wurde er als "Negerfreund" beschimpft.

Dürr: Weil er Geldverschwendung, Korruption, Inkompetenz und Brutalität der Kolonialverwaltung anprangerte. Allerdings war er kein grundsätzlicher Gegner des kolonialen Systems. Er bezweifelte nicht die damals vorherrschende Ansicht, wonach die Europäer dem Rest der Welt überlegen seien.

KNA: Dann kam der Erste Weltkrieg.

Dürr: Der Erste Weltkrieg war ein Wendepunkt für Erzberger. Zu Beginn gehörte er zu den lautstärksten Nationalisten, plädierte für die Zerstörung von London oder den Einsatz von Flammenwerfern. Irgendwann hat er erkannt, dass man den Krieg militärisch nicht mehr gewinnen konnte und baute seitdem auf einen Verhandlungsfrieden. Nach Kriegsende hat er dann sein politisches Gewicht für die internationale Verständigung sowie die Umsetzung des Versailler Vertrags in die Waagschale geworfen.

KNA: Erzberger erlebte manch analogen Shitstorm, teilte freilich auch selbst aus - vor 100 Jahren wurde er von zwei Rechtsradikalen ermordet. Gibt es Parallelen zum Umgang mit Politikern in der heutigen Zeit?

Dürr: Ich glaube, die Parallele zu heute ist eine zunehmende Polarisierung in Politik und Gesellschaft.

KNA: Aber Berlin ist nicht Weimar, oder?

Dürr: Es gibt durchaus Unterschiede. Was das politische System anbelangt, hat Berlin durchaus von Weimar gelernt. Aber bei dem Mord an Erzberger hat man gesehen, wie gefährlich Worte und politische Hetze sein können, wie schnell so etwas umschlagen kann in Gewalt. Das ist etwas, was wir heute auch wieder erleben und woraus wir hoffentlich lernen.

KNA: In unseren Tagen wird viel Hype um Weimar betrieben, die TV-Serie Babylon Berlin ist das bekannteste Beispiel - würde ein Erzberger in das Setting der filmischen Erzählung passen?

Dürr: Es ist interessant, dass Erzberger relativ unbekannt ist, obwohl er viel Einfluss hatte damals. Ich denke, dass er sich sehr gut eignen würde für eine derartige Serie, weil er ein bunter Vogel war. Er kam aus sehr einfachen Verhältnissen und war anders als viele andere Politiker und Diplomaten seiner Zeit.

KNA: Eine Sache müssen wir noch klären: Der Papst wohnt bekanntermaßen im Vatikan, beinahe aber wäre er im Ersten Weltkrieg nach Liechtenstein umgezogen. Welchen Anteil hatte Erzberger daran?

Dürr: Es gab damals das Problem, dass der Papst mit dem Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg nicht mehr so wie bisher als unabhängige neutrale Instanz agieren konnte. Erzberger hatte zunächst versucht, Italien vom Kriegseintritt abzuhalten. Als das nicht gelang, verfolgte er den Plan, den Papst in ein anderes Gebiet ziehen zu lassen, und wählte dafür das von dem gleichnamigen katholischen Fürstenhaus regierte Liechtenstein aus. Es ist aus den Quellen nicht ganz klar, ob das seine eigene Idee war oder ob er das irgendwo aufgegriffen hat.

KNA: Wie sollte das funktionieren?

Dürr: Mit einem Umzug, so der Plan, wäre der Papst Staatsoberhaupt von Liechtenstein geworden. Letztlich verweigerte sich die Fürstenfamilie dem Ansinnen. Auch, als Erzberger eine Kompensation durch Österreich-Ungarn ins Spiel brachte oder vorschlug, Liechtenstein zu teilen, damit der Papst die eine Hälfte und die Fürstenfamilie die andere Hälfte regiere.

KNA: Das ohnehin schon kleine Liechtenstein wäre dann noch kleiner geworden...

Dürr: Rudolf von Gerlach, als Kammerdiener und Privatsekretär des Papstes Erzbergers wichtigster Ansprechpartner, hielt das für Unsinn, weil Liechtenstein "sonst überhaupt kein souveräner Staat mehr wäre, sondern ein lächerliches Gebilde".

KNA: Die Umzugspläne scheinen in der zweiten Jahreshälfte 1916 ad acta gelegt worden zu sein.

Dürr: Für Erzberger war das ein wichtiges Projekt, dessen Scheitern er sehr bedauert hat.


Der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger  (HdGBW)
Der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger / ( HdGBW )
Quelle:
KNA
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