Titularorganist von Notre-Dame über den Wiederaufbau und Konzerte

"Alles soll im April 2024 spielbar sein"

Olivier Latry ist seit 35 Jahren Titularorganist an der Kathedrale Notre-Dame de Paris. Im Interview, das im Rahmen eines Konzerts in der Abtei Brauweiler entstand, spricht er über Konzerte in der Corona-Zeit und den aktuellen Stand der Arbeiten in Notre-Dame.

Abbau der Hauptorgel von Notre-Dame / © Stephane De Sakutin/POOL AFP (dpa)
Abbau der Hauptorgel von Notre-Dame / © Stephane De Sakutin/POOL AFP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Was macht ein Titularorganist ohne Titularkirche?

Olivier Latry (Titularorganist an der Großen Orgel der Kathedrale Notre-Dame de Paris): Die Liturgie von Notre Dame geht natürlich weiter. Wir haben jetzt eine Kirche gegenüber des Louvre in Paris, Saint-Germain-l'Auxerrois. Wir spielen in dieser Kirche. Aber auch in dieser Kirche gibt es einen Titularorganisten. Wir sind nur die Vertreter von dem Organisten dort.

DOMRADIO.DE: Das heißt, sie haben in der Liturgie weniger zu tun als früher?

Latry: Genau, vielleicht noch einmal jeden Monat oder alle zwei Monate.

DOMRADIO.DE: Ihre Zeit verbringen Sie dann damit, Konzerte zu geben. Oder was ist ihre Hauptaufgabe?

Latry: Konzerte, viele Konzerte. Das ist meine Hauptaktivität. Ich spiele vielleicht zwischen 70 und 80 Konzerte jedes Jahr. Ohne Notre-Dame kann ich noch ein bisschen mehr machen.

DOMRADIO.DE: Ist das eine willkommene Abwechslung? Oder ist das für Sie ganz wichtig in ihrem Alltag? Geht es gar nicht ohne Konzerte?

Latry: Das ist mein Leben! Ich habe mich selbst gefragt, was das ist. Das ist wirklich mein Leben. Ich bin nicht sicher, ob ich ohne Konzerte überhaupt noch Orgel üben würde. Die Konzerte helfen mir, die Orgel noch weiter zu üben.

DOMRADIO.DE: Wie oft müssen sie denn noch üben an der Orgel? Ich habe in einem Interview gelesen, dass Sie vor dem Brand an jedem Tag, an dem Sie in Paris waren, auch an der Orgel saßen.

Latry: Ja, das ist wie ein Sport. Wir müssen natürlich jeden Tag proben und üben. Ich wohne nicht so weit von Notre Dame, wenn die Kathedrale frei war, konnte ich jederzeit dorthin gehen. Das war natürlich sehr schön. Aber ich habe trotzdem auch eine Orgel zu Hause. Das ist wichtig.

DOMRADIO.DE: Wie muss ich mir die Orgel zuhause bei Ihnen vorstellen?

Latry: Sie ist sehr klein. In Paris ist alles sehr klein, ich habe eine Orgel mit eineinhalb Registern. Aber ich habe ein Haus in der Bretagne mit einem größeren Instrument.

DOMRADIO.DE: Jetzt sind sie in Deutschland, geben Konzerte in dieser sehr besonderen Zeit. Das Coronavirus bestimmt die ganze Welt. Ist das für Sie anders als früher?

Latry: Ja, das ist natürlich etwas anders. Zunächst einmal, weil 50 Konzerte annulliert wurden. Das ist sehr viel. Jetzt ist es natürlich etwas anderes, besonders weil das Publikum nicht so groß ist. Zum Beispiel hier, in Brauweiler, waren nur 80 Leute. Es könnte sonst voll sein. Aber wegen Corona ist das nicht mehr möglich. Das passiert oft. In diesem Monat habe ich zum Beispiel vier Mal in Deutschland gespielt, und die Konzerte wurden immer gedoppelt. Das meint, dass dann nicht nur 80 Leute kommen können, sondern die doppelte Anzahl.

DOMRADIO.DE: Müssen Sie das Programm auch etwas verändern, wenn weniger Leute kommen, oder spielen Sie einfach das, was geplant war?

Latry: Zum Beispiel hier in Brauweiler habe ich gespielt, was geplant war. Aber wenn zwei Konzerte an einem Tag stattfinden, ist natürlich das Programm ein bisschen kürzer gemacht.

DOMRADIO.DE: Ist das für Sie auch ein besonderer Reiz, diese ganzen verschiedenen Orgeln, auf denen sie Konzerte geben, kennenzulernen?

Latry: Für mich ist das jedes Mal eine neue Erfahrung. Das ist jedes Mal, als würde man einen neuen Kammermusikpartner treffen, um Musik zusammen zu machen. Und natürlich kann die Orgel nicht sprechen. Aber sie sagt wirklich: "Das funktioniert, das funktioniert nicht, versuch etwas anderes".

DOMRADIO.DE: Kommen wir noch mal zurück auf Corona. Jetzt spielen sie in Deutschland vier Konzerte. Auch im Kölner Dom hat es viele Konzerte in diesem Sommer gegeben. Wie ist das in Frankreich? In Frankreich hatte die Pandemie noch deutlich größere Auswirkungen als hier in Deutschland. Fängt da das Konzertleben auch wieder an oder ist es noch sehr zurückgenommen?

Latry: Es gibt einige Konzerte. Ich habe mein erstes Konzert nach der Corona-Pause in Frankreich gespielt, in Luchon an der Cavaillé-Coll-Orgel. Aber es gibt nicht so viele wie vorher und das ist ein bisschen kompliziert. Aber trotzdem versuchen die Leute, nur zu leben. Und die Konzerte sind auch ein Teil von dem Leben.

DOMRADIO.DE: Das heißt, die Musik kann auch ein bisschen Hoffnung geben.

Latry: Genau und es ist auch schön, nicht nur zu Hause zu bleiben. Aber es ist nicht möglich, zum Beispiel ins Kino zu gehen. Kino, Theater, Konzerte sind aber natürlich sehr wichtig.

DOMRADIO.DE: Jetzt sind sie auch bekannt dafür, dass sie hervorragend improvisieren können. Kann man Corona irgendwie musikalisch ausdrücken?

Latry: Nein, nicht wirklich. Aber ich habe es besonders bei meinem ersten Konzert nach der Pause gemerkt und meine Frau hat es mir auch gesagt, dass es ein bisschen wie eine Befreiung war. Ich war so glücklich zu spielen. Alle Leute haben das gehört.

DOMRADIO.DE: Es gibt ja immer ein großes Interesse an Notre-Dame hier in Deutschland. Wie geht es jetzt weiter nach dem Brand? Ist es für Sie manchmal auch ein bisschen anstrengend, immer wieder danach gefragt zu werden?

Latry: Ich bin Organist in Notre-Dame und ich verstehe, dass die Leute das wissen wollen. Ich antworte gern zu diesen Fragen.

DOMRADIO.DE: Was können Sie uns denn sagen? Was ist denn der aktuelle Stand jetzt im September?

Latry: Die Orgel wird abgebaut werden, das hat letzten Dienstag schon angefangen. Der Spieltisch wurde letzten Monat schon abgeholt. Jetzt sind die Pfeifen dran und das wird fünf Monaten dauern. Danach wird die Orgel total restauriert und alles soll im April 2024 spielbar sein.

DOMRADIO.DE: Fünf Jahre nach dem Feuer soll alles wieder funktionieren. So hat es ja auch Emmanuel Macron, der Staatspräsident, gesagt. Haben Sie die Hoffnung, dass das wirklich klappt in fünf Jahren?

Latry: Ja, ich denke, das ist kein Problem. Auch mit dem Dach, wenn alles wie vorher aufgebaut wird und nicht etwas Neues, dann dauert das ungefähr sechs Monate. Ich denke, wir können 2024 die Kathedrale betreten. Draußen wird es noch nicht total fertig sein, aber wir hoffen, dass wir vorher in der Kathedrale sein können.

DOMRADIO.DE: Wie oft waren Sie selber schon in der Kathedrale, an der Orgel und am Spieltisch?

Latry: Ich bin nur einmal in der Kathedrale gewesen. Das war ein Monat nach dem Brand. Einmal ist genug. Das war so traurig, die Kathedrale so zu sehen. Zum Beispiel die Türme, die draußen sind, von innen in der Kathedrale durch dieses Loch im Dach zu sehen. Das war traurig und komisch.

DOMRADIO.DE: Aber waren sie auch glücklich, dass so viel von der Orgel noch erhalten war?

Latry: Nicht nur die Orgel, sondern auch das Chorgestühl, das Kreuz, die Marienstatue in der Nähe des Altars, der Hauptaltar… Dass noch alle sehr wichtigen Sachen für die Liturgie noch da sind, das ist unglaublich.

DOMRADIO.DE: Wir haben bei uns im DOMRADIO mit dem Ratinger Kantor Ansgar Wallenhorst kurz nach dem Brand ein Interview geführt. Er hat gesagt, für ihn ist es ein Wunder, dass diese Orgel nicht zerstört wurde. Würden sie das auch sagen?

Latry: Ja, klar. Können Sie sich das vorstellen? In der Orgel hängt ein Thermometer. Während des Feuers betrug die Temperatur nur 17 Grad, das ist unglaublich.

DOMRADIO.DE: Das heißt, wahrscheinlich ist die Orgel nicht mal verstimmt?

Latry: Sie könnte nicht verstimmt sein, aber sie hat viel Staub durch das Blei abbekommen. Deshalb war es besser, die Orgel nicht zu spielen.

DOMRADIO.DE: Wird man beim Wiederaufbau der Orgel etwas anders machen, vielleicht neue Teile einbauen, andere Dinge verändern?

Latry: Ich habe schon zwei Registrierungen in Notre Dame erlebt, 1992 und vor fünf Jahren. Ich glaube, dass die Orgel jetzt in einem sehr guten Gleichgewicht ist. Ich würde nichts verändern.

DOMRADIO.DE: Wie groß ist Ihre Sehnsucht? Können Sie es noch abwarten, bis sie wieder den Klang hören?

Latry: Ich will nicht zu viel über dieses Problem nachdenken. Ich habe noch viereinhalb Jahre zu warten. Es ist schön, dass ich so viel mit der Orgel gelebt habe. Ich bin seit 35 Jahren Organist in Notre-Dame und ich wohne nicht weit weg von der Kathedrale. Also konnte ich sehr oft an der Orgel üben, nachts, am Abend, am frühen Morgen. Auch die Konzerte und Aufnahmen. Ich habe so viel mit ihr gelebt, das hilft mir zu warten.

DOMRADIO.DE: Zum Jahrestag des Feuers hat die große Glocke von Notre-Dame geläutet, Emmanuel. Das war für Sie sehr bewegend, haben Sie bei Facebook geschrieben. Wie sehr haben Sie das jetzt schon überwunden? Sind Sie immer noch geschockt von dem Feuer oder ist das schon ein bisschen verarbeitet?

Latry: Nein, wir sind noch geschockt. Und wie ich gesagt habe, ich wohne nicht weit weg von der Kathedrale. Ich kann Notre-Dame jeden Tag sehen und das ist Horror. Ich denke immer noch jedes Mal: "Wie ist das möglich?"

DOMRADIO.DE: Was gibt Ihnen Hoffnung, dass es bald wieder alles gut ist?

Latry: Der Glaube.

Das Interview führte Matthias Friebe.

Das Interview enstand am Rande eines Konzerts in der Abtei Brauweiler.


Abbau der Hauptorgel von Notre-Dame / © Christophe Ena/AP (dpa)
Abbau der Hauptorgel von Notre-Dame / © Christophe Ena/AP ( dpa )
Quelle:
DR
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