Der Papst mache mit seinem Schreiben "Amoris Laetitia" "Ernst mit seinem immer wieder verkündeten Programm der Barmherzigkeit". Vielen gehe das Abschlussdokument der Weltbischofssynode auf den ersten Blick vielleicht nicht weit genug, so Hubert Wolf.
In der Tat verändere der Papst nichts an der Doktrin. "Aber bei ihrer Anwendung auf der Ebene der Disziplin und des seelsorgerlichen Handelns fordert Franziskus dezidiert zu neuen Wegen auf, von denen manche bis vor Kurzem noch mit dem Odium der Unkirchlichkeit behaftet gewesen wären." Es sei "befreiend", dass der Papst die Notwendigkeit unterschiedlicher Interpretationen der kirchlichen Lehre in den verschiedenen Gegenden der Welt benenne.
Vorbild Ratzinger
Wolf verweist zugleich darauf, dass Franziskus' Vorgänger Benedikt XVI. im Jahr 1972, damals noch Dogmatik-Professor in Regensburg, eine Art Einzelfallprüfung durch Pfarrer und Gemeinden beschrieben habe.
Joseph Ratzinger schrieb damals, "unterhalb der Schwelle der klassischen Lehre" habe es "offensichtlich immer wieder in der konkreten Pastoral eine geschmeidige Praxis gegeben, die zwar nicht als dem wirklichen Glauben der Kirche ganz konform angesehen, aber doch auch nicht schlechthin ausgeschlossen wurde." Als Präfekt der Glaubenskongregation ließ Ratzinger diese Argumentation 1994 nicht mehr gelten.
Abschied von verkrustetem Wahrheitsbegriff
Franziskus schwenke nun auf diese von Ratzinger vorgezeichnete und später von drei oberrheinischen Bischöfen aufgegriffene Linie ein, so Wolf. Der Papst verabschiede sich "von einem lehramtlich-verkrusteten Sprachduktus und einem unbarmherzigen, in Beton gegossenen Wahrheitsbegriff, von einer mechanisch-deduktiven Anwendung von Normen ohne Blick auf die konkreten Umstände, unter denen Menschen leben und leiden.
Er verabschiedet sich von einem negativen Menschenbild im Geiste des augustinischen Pessimismus und einer einseitigen Konzentration auf Sexualität als etwas grundsätzlich Negativem."