Wissenschaftler: Kirche muss Kontakt mit Menschen suchen

"In Berührung kommen"

Kirche prägt nach den Worten des Religionssoziologen Detlef Pollack zwar nicht mehr selbstverständlich das Leben der Menschen. Dennoch könnten die Kirchen durchaus etwas gegen den Mitgliederschwund tun, meint der Wissenschaftler.

Autor/in:
Holger Spierig
Gottesdienstbesucherinnen in einer Kirche / © Harald Oppitz (KNA)
Gottesdienstbesucherinnen in einer Kirche / © Harald Oppitz ( KNA )

Evangelischer Pressedienst (epd): Nach einer Umfrage der westfälischen Kirche sind 70 Prozent der Befragten der Meinung, dass ihnen der Glaube etwas bedeutet, 60 Prozent meinen zugleich, den Glauben ohne Kirche leben zu können. Wie lässt sich ein solches Ergebnis erklären?

Detlef Pollack (Religionssoziologe an der Universität Münster): In modernen Gesellschaften legen Menschen verstärkt Wert darauf, ihre Lebensentscheidungen selbst zu fällen und sich nicht von Autoritäten bestimmen zu lassen. Das trifft auch auf das Verhältnis der Individuen zu Religion und Kirche zu. Wenn man dem Glauben für die eigene Lebensgestaltung eine Bedeutung zuschreibt, dann ist das typischerweise mit einer Haltung verbunden, die auf religiöse Autonomie drängt.

Die Kirche mag man schätzen oder auch nicht - und meistens sind auch die Kirchennahen kirchenkritisch eingestellt -, auf keinen Fall soll sie über den eigenen Glauben Macht ausüben.

Der Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben gehört zum Selbstverständnis der Menschen in der Moderne, auch wenn sie sich in ihrer Praxis natürlich von vielen äußeren Umständen beeinflussen lassen, auch von der Kirche.

Typischerweise nimmt die Wahrscheinlichkeit, an Gott zu glauben oder privat zu beten, mit der Beteiligung am kirchlichen Leben zu und nicht ab. Die Abgrenzung von der Kirche trägt so teilweise auch Züge eines hoch gesteckten, vielleicht sogar überzogenen Autonomieanspruchs.

epd: Was kann die Kirche Ihrer Einschätzung nach tun, um attraktiver zu werden? Sind unverbindliche Mitgliedschaften oder andere Gottesdienstzeiten eine Lösung?

Pollack: Ein Problem des kirchlichen Handelns besteht darin, dass Glaubensbezüge nicht mehr das ganze Leben durchdringen und etwa die Kindererziehung, die politischen Einstellungen oder den eigenen Lebensstil prägen, sondern nur noch gelegentlich hergestellt werden, in Krisensituationen, bei der Geburt eines Kindes oder zu Weihnachten.

Deshalb kommt es darauf an, dass Kirche stets professionell agiert und ihre Angebote dialogisch, menschenfreundlich, einfühlsam unterbreitet. Die Gelegenheiten, an denen die Menschen mit Kirche in Berührung kommen, müssen anziehend sein.

epd: Mit welchen Stärken kann die Kirche punkten?

Pollack: Es kommt für die Kirche auch darauf an, selbst Gelegenheiten zum Kontakt zu schaffen: durch soziales Engagement, Diakonie, Bildungsarbeit, Präsenz im öffentlichen Raum.

Insbesondere die Kinder- und Jugendarbeit ist zentral, denn von den religiösen Erfahrungen im Kindes- und Jugendalter hängt in starkem Maße ab, ob man später als Erwachsener eine Beziehung zum Glauben und zur Kirche aufbaut.

epd: Wie sollten Kirchen mit Menschen umgehen, die sich mit ihren Abstiegsängsten eher bei der AfD aufgehoben fühlen?

Pollack: Kirche muss für alle da sein. Im Unterschied zu den politischen Parteien hat sie nicht die Aufgabe, die Demokratie zu verteidigen, wenn sie angegriffen wird, sondern den Menschen in allen ihren Lebenslagen beizustehen.

Eine klare politische Positionierung der Kirche oder der Pfarrer kann sich, auch wenn man damit kurzfristig Menschen zu überzeugen vermag, langfristig nur negativ auf die Verkündigung der Botschaft auswirken.


Religionswissenschaftler Detlef Pollack / © Brigitte Heeke (epd)
Religionswissenschaftler Detlef Pollack / © Brigitte Heeke ( epd )
Quelle:
epd