Armutsforscher: Corona ist potentieller Armutsfaktor

Reiche werden reicher - Arme werden zahlreicher

15,9 Prozent der Deutschen waren 2019 von Armut bedroht, vermeldet das Statistische Bundesamt. Der Wert ist damit so hoch wie lange nicht, obwohl sich der größte Armutsfaktor – die Corona-Pandemie – noch gar nicht in den Zahlen niederschlägt.

Symbolbild: Verzweifelte Eltern / © fizkes (shutterstock)
Symbolbild: Verzweifelte Eltern / © fizkes ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Wenn von Armutsgefährdung oder Bedrohung die Rede ist, ist das dann noch keine Armut. Also alles nicht so schlimm?

Prof. Christoph Butterwegge (Armutsforscher): Gemeint ist damit, dass die äußeren Lebensbedingungen natürlich schwer beurteilt werden können, wenn man das Einkommen alleine erfasst. Wenn jemand zum Beispiel in einem eigenen Haus wohnt, dann ist er natürlich mit einem Einkommen, das eigentlich schon Armut anzeigt, noch nicht arm, weil er keine Miete zu zahlen hat. Deshalb spricht man - ich finde übrigens etwas verharmlosend - von Armutsgefährdung. Besser wäre zu sagen: Jemand ist einkommensarm, weil Menschen, die um 1.000 Euro an Einkommen haben, meistens nicht in einem Schloss wohnen.

DOMRADIO.DE: Die relative Armut wird am mittleren Einkommen der Gesamtbevölkerung gemessen und diese Methode wird mitunter kritisiert. Verdoppelt, verdreifacht oder verzehnfacht man sämtliche Gehälter, bei bleibendem Preisniveau, würde sich die Armutsquote nicht ändern. Es werden also genauso viele laut Statistik so arm wie vorher. Ist da was dran an der Kritik?

Butterwegge: Nein. Man könnte umgekehrt auch entgegnen, dass die Abstände in der Gesellschaft noch größer würden. Denn wenn zum Beispiel alle Einkommen sich verzehnfachen, dann wären natürlich die Abstände zum nächsten, der vorher vielleicht etwas mehr hatte, sehr viel größer geworden. Ich denke, das ist alles fiktiv, weil sich in einer Gesellschaft in der jeder sehr viel Geld hätte natürlich auch die Preise erhöhen würden. Deshalb muss man in Rechnung stellen, dass inflationäre Tendenzen natürlich wieder vieles von dem auffressen würden.

Es gibt diese relative Armut und sie ist auch in unserer Gesellschaft von ganz entscheidender Bedeutung, so wie es auch absolute Armut noch gibt: Wohnungs- und Obdachlose sind absolut arm, weil sie ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können.

DOMRADIO.DE: Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes besagen auch, dass sich der Osten entspannt, während die relative Armut im Westen steigt. Das ist überraschend, oder?

Butterwegge: Für mich nicht so sehr, weil ich berücksichtige, dass der gesetzliche Mindestlohn, der am 1. Januar 2015 eingeführt worden ist, im Osten dazu geführt hat, dass die dort wirklich sehr, sehr niedrigen Gehälter sogar in Branchen, in denen Tariflöhne gezahlt wurden, gestiegen sind – wie zum Beispiel im Friseurhandwerk. Dort gab es Tariflöhne, die zwischen drei und vier Euro pro Stunde lagen. Da ist natürlich der gesetzliche Mindestlohn ein Instrument gewesen, um die Menschen, die so niedrige Löhne hatten, ein Stück weit anzuheben. Dadurch ist die relative Armut, um die es hier ja im Wesentlichen geht, in Ostdeutschland gesunken.

DOMRADIO.DE: Die Statistik bezieht sich nun ausschließlich aufs Einkommen. Ich vermute, der Bildungsstand ist auch ein Indikator – oder die Wohnsituation?

Butterwegge: Zumindest gibt es auch Bildungs-Ungleichheit und Wohn-Ungleichheit. Was mir aber auch immer ein bisschen zu kurz kommt bei diesen Statistiken, die uns da ja häufig begegnen, ist die Vermögenssituation. Das war für mich zum Beispiel in der Corona-Pandemie ganz aufschlussreich: Viele Millionen Menschen kamen plötzlich in existenzielle Nöte, als auch nur wenige Wochen ihr reguläres, normales Einkommen wegfiel oder aber gemindert wurde, zum Beispiel durch Kurzarbeit. Das heißt, wer kein Vermögen hat und gewissermaßen von der Hand in den Mund lebt, der kann auch sehr stark armutsgefährdet sein, weil das Einkommen volatil ist. Das kann wegfallen. Die Einkommensquelle kann versiegen, wie in der Corona-Pandemie, und ein großes Vermögen zum Beispiel ist sehr viel stabiler als ein Einkommen.

DOMRADIO.DE: Würden Sie sagen, dass Corona ein gravierendes Armutsrisiko darstellt?

Butterwegge: Das ist ganz sicherlich der Fall. In der Corona-Pandemie hat sich ganz gewiss die Armut verstärkt. Ich würde so weit gehen zu sagen: Auch der Reichtum hat eher zugenommen. Man kann sagen, die Reichen sind reicher geworden und die Armen zahlreicher. Wem ein Baumarkt gehört oder wer zum Beispiel in bestimmten Branchen Aktionär ist, wie zum Beispiel bei Amazon oder Zalando, der ist noch reicher geworden. Wohingegen die Gruppen in der Gesellschaft, denen es schlecht geht – Wohnungs- und Obdachlose, Geflüchtete, auch Menschen in Gemeinschaftsunterkünften, Transferleistungsbezieher, Hartz IV-Empfänger – die haben kaum profitiert. Selbst von den Sozial-Schutz-Paketen der Bundesregierung nicht, weil die Bundesregierung sehr stark darauf gesetzt hat, auch in ihren Hilfsprogrammen nach dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit denjenigen Gelder zukommen zu lassen, die schon vor der Krise etwas ökonomisch zustande gebracht haben – also entweder Unternehmer waren oder aber Beschäftigte, die ja mit Kurzarbeitergeld ein Stück weit aufgefangen werden.

Die Gruppen, die Hartz IV beziehen, die haben die Kinder zuhause, weil die Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen geschlossen waren. Die mussten jetzt ein zusätzliches Essen bereitstellen, das die Kinder vorher kostenlos in der Kita oder in der Schule bekommen hatten. Die haben keinen Ernährungsaufschlag auf ihre Transferleistungen bekommen. Ich finde deswegen, dass die Armen ja auch noch ärmer geworden sind in dieser Corona-Zeit.

Das Gespräch führte Tobias Fricke.


Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler und Armutsforscher / © Elisabeth Schomaker (KNA)
Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler und Armutsforscher / © Elisabeth Schomaker ( KNA )
Quelle:
DR