Es ist die Angst, die stumm macht. Im Vatikan ist der Reflex: lieber nichts sagen - weil jede Antwort weitere Fragen nach sich ziehen könnte, unabsehbare Konsequenzen. Auf dem Friedhof des Priesterkollegs beim Petersdom soll ein Grabmal geöffnet werden, um das Schicksal der vor 36 Jahren verschwundenen Vatikanbürgerin Emanuela Orlandi zu klären. Und unversehens hat sich über den Campo Santo Teutonico, den idyllischen Gottesacker mit Rhododendron, Akanthus und duftendem Oleander, kühl und bleiern das Schweigen gelegt.
Am Donnerstag werden hier italienische Kriminaltechniker erwartet. Ihr Ziel ist ein Grab zu Füßen eines Marmorengels, der mit traurig-mattem Blick und straff gegürtetem Gewand ein Blatt in Händen hält: Requiescat in pace. Ruhe in Frieden.
Ungewissheit fördert Spekulationen
Am 22. Juni 1983 war die damals 15-jährige Emanuela, Tochter eines kleinen Angestellten im Vatikan, vom Musikunterricht nicht nach Hause zurückgekehrt. Bald meldeten sich angebliche Entführer, die ihre Freilassung im Austausch gegen den Papst-Attentäter Mehmet Ali Agca forderten. Sämtliche Nachforschungen blieben ohne Ergebnis. Und je größer die Ungewissheit, desto stärker wucherten Spekulationen.
Als mögliche Umstände des Verschwindens wurden eine offene Rechnung der römischen Magliana-Bande mit der Vatikanbank genannt, eine Internierung Orlandis in einem Kloster irgendwo in Europa, ein Unfall bei einer Sex- und Drogenparty mit Kurialen. Keine der Thesen ließ sich erhärten. Die italienische Staatsanwaltschaft legte den Fall 2015 ungelöst zu den Akten. Nicht so die Öffentlichkeit.
Anonymer Hinweis
Vor allem Emanuelas Bruder Pietro Orlandi setzt alles daran, die Wahrheit über den Verbleib seiner Schwester zu erfahren. Einmal gab es einen Wink auf das Grab des Gangsterbosses Enrico De Pedis, der - rätselhaft genug - seine Ruhestätte in der römischen Basilika Sant'Apollinare neben der Opus-Dei-Universität fand. Eine Untersuchung 2012 verlief negativ. Neuen Verdacht weckte ein Gebeinfund im Herbst 2018 in der Vatikanbotschaft in Rom. Die Analysen ergaben: Es waren Überreste aus der Antike.
Im Sommer 2018 erhielt die Anwältin der Familie Orlandi, Laura Sgro, einen anonymen Hinweis auf den Campo Santo: "Sucht, wohin der Engel schaut", soll die Botschaft gelautet haben. Gemeint war das Denkmal für Sophia und Gustav Adolf von Hohenlohe. Sgro zufolge wurde das Grab nach Sachverständigenmeinung mindestens einmal nachträglich geöffnet. Laut Pietro Orlandi kam der Tipp aus internen Kreisen.
Über Monate versuchte er nach eigenen Angaben eine diskrete Klärung im Vatikan. Als das nicht klappte, so Orlandi gegenüber dem "Corriere della Sera", reichte er eine formelle Anfrage beim vatikanischen Staatssekretariat und der Staatsanwaltschaft ein. "Ich wollte nicht wieder vor der üblichen Gummiwand stehen", sagte er.
Zugangssperre zum Friedhof
Vor der Graböffnung hält der Vatikan jede Neugier auf Distanz. Schweizergardisten an der Grenze des päpstlichen Kleinstaats behaupten fadenscheinig, der Campo Santo sei im Sommer geschlossen. Der Rektor des deutschen Kollegs will sich nicht kontaktieren lassen. Im Sekretariat heißt es, italienische Ermittler hätten eine Zugangssperre zu dem Friedhof verhängt. Nicht einmal ein Blick von den Fenstern des Büros in den Garten wird gewährt.
Dabei scheint abwegig, dass ein vatikanisches Komplott sich gerade den Campo Santo für eine heimliche Beisetzung ausgesucht haben sollte. Der Friedhof liegt formal auf italienischem Boden mitten im Vatikanstaat und bildet mit Kirche und Kolleg einen geschlossenen Komplex. Wer immer sich hier zu schaffen macht, müsste Fragen des Personals und aufmerksame Augen gewärtigen.
"Verständlich, aber irrational", nennt jemand aus dieser deutschsprachigen Enklave den Versuch der Familie Orlandi, hier endlich die Antwort auf die Frage nach dem Verbleib Emanuelas zu finden. Für Pietro Orlandi geht es darum, "uns diesen Zweifel zu nehmen". Aber im Vatikan greift erst einmal der Reflex des Schweigens.