Man kennt das: In etlichen Familien kursiert in der Zeit vor Weihnachten die Sorge, dass während des festlichen Beisammenseins irgendwann der Haussegen schief hängt - auch wenn man nach Kräften versucht, das zu verhindern. Die Erwartungen an diese Tage sind oft zu hoch; schwelende Konflikte und kontroverse Themen machen keine Pause, weil ein hoher, mit Emotionen belegter Feiertag ansteht.
Die Nichte studiert angeblich zu lange, der Sohn stellt mit seiner Frau noch immer kein Enkelkind in Aussicht, die Tante fand Trump gar nicht so schlecht, und dann sind da noch die AfD, das Klima und der überaus neugierige Onkel. Reizthemen gibt es viele - und Corona ist auch noch lange nicht überstanden.
Neue Formen weihnachtlichen Beisammenseins
Die Frage ist, ob die üblichen Kabbeleien zurücktreten, weil Treffen mit der Familie wegen der Infektionsgefahr mit dem Virus seltener und damit wertvoller geworden sind? Und bleibt das ein oder andere Thema schon allein deswegen aus, weil die Festtagsrunden in diesem Jahr kleiner ausfallen werden? Will man schlicht das Beisammensein feiern?
Möglich, sagt der Philosoph Andreas Weber. "Es wird sicher Familien geben, die es als Geschenk sehen, dass sie zusammen sein können." Und deswegen auch gelassen und mit Humor neue Formen des weihnachtlichen Beisammenseins ausprobieren, um das Infektionsrisiko gering zu halten. Für manche Familien stehe die christliche Idee, sich an einem höheren Sinn zu orientieren, im Mittelpunkt.
"Es wird alles intensiver"
Weber gibt jedoch zu bedenken: "Wenn echte Konflikte da sind, ist es sehr schwierig, sie zu verschieben." Gerade in der Corona-Pandemie sind neue Konflikte entstanden: Manch einer leugnet das Virus, andere waren erkrankt, wiederum andere stehen vor enormen wirtschaftlichen Problemen oder sorgen sich um die, die in Kliniken beatmet werden müssen. Ängstliche und Sorglose treffen aufeinander.
Nicht jeder schaffe es, innere Konflikte zurückzuhalten und sie nicht ungefiltert nach außen zu transportieren, betont Weber, der kürzlich das Buch "Warum Kompromisse schließen?" veröffentlicht hat. Und für Menschen, die ohnehin Schwierigkeiten hätten, eine Beziehung gleich welcher Art zu führen, blieben diese Schwierigkeiten auch in Zeiten, in der Beziehungen eine große Rolle spielten.
Für solche Menschen könne es eine Erleichterung sein, dass große Familientreffen wohl nicht opportun sein dürften, betont Weber. Sie dächten: "Gott sei Dank!" Wie auch immer ein jeder zu Weihnachten in Corona-Zeiten stehe: "Es wird alles intensiver."
Weihnachten deutlich familiärer geprägt als Ostern
Und wenn Weihnachten wie Ostern wird? Im Frühjahr war es nicht geboten, Familienmitglieder zu treffen. Die meisten begingen das Fest der Auferstehung Jesu in der Kernfamilie, als Paar, mit dem besten Freund oder allein. Gemeinsame virtuelle Frühstücke und Eiersuchen hatten Konjunktur, damit Oma und Opa auch irgendwie dabei sein konnten.
Das Fest der Geburt Jesu ist allerdings deutlich stärker familiär geprägt. Nicht wenige Menschen haben Sorge, es vielleicht allein oder die Bescherung mit den Verwandten über ein unscharfes Skype-Bild zu verbringen. Manch einer nehme das heiter, bei anderen wiederum liege über virtuellen Treffen eine Melancholie, sagt Weber.
Neuanfänge in der Krise finden
Damit das Feiern von Weihnachten mitten in der Pandemie gelingen kann, empfiehlt der Experte für Kompromisse, bei der Planung mit anderen Menschen echte Bedürfnisse zu ergründen: "Was wünschst du dir?" Denn die Krise ermögliche neben allem berechtigtem Stress auch Neuanfänge - und ganz andere Perspektiven.
"Krisen bringen uns dazu, Routinen zu hinterfragen", sagt Weber. Er spricht vom "Produktiven des Dramas": Unvorhergesehenes berge auch die Möglichkeit zu unvorhergesehenem Glück und dafür, "sich mit sich selbst zu befreunden". Man habe die Chance zu erkennen, dass sich nicht alles um einen selbst drehe, sondern dass es etwas Größeres in der Welt gebe.
Selbst wenn man an Weihnachten allein bleiben muss: Wer es schafft, das nicht nur traurig zu finden, sollte die Chance ergreifen, sich ein wenig zu pflegen, das Lieblingsessen zu kochen und sich für sich selbst fein zu machen, schlägt Weber vor: "Man kann sich die Nettigkeiten erweisen, die man sich sonst von Onkel Heini vergeblich erhofft."