Wir erinnern uns noch alle an den Herbst 2015 - an die Bilder mit den endlos langen Schlangen von Flüchtlingen, u.a. etwa aus Syrien. Geflohen vor Krieg und Terror, vor den Schrecken des Assad-Regimes, vor Hunger und Zerstörung. Mit einem Mal war die Not des Krieges bei uns vor der Haustür angekommen, die zuvor doch so weit weg war. Dankbar erinnere ich mich an die vielen helfenden Hände, die unsere Mitmenschen damals bei uns willkommen geheißen haben. Für mich waren und sind sie immer noch ein lebendiges Zeichen christlich gelebter Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe. Sie erinnerten daran, einen jeden Menschen als das zu sehen, was er ist: ein Abbild, ein Ebenbild Gottes. Eine Schwester. Ein Bruder.
Heute hören wir zumeist nur noch kritische Stimmen zu Migration und deren Folgen. Und manche Stimme hat dann ja auch recht: diejenige etwa, die religiösen Extremismus, der in Terror mündet, anprangert. Da wird die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft eines ganzen Landes zutiefst missbraucht. Solche Menschen haben hier bei uns nichts verloren.
Daneben aber - und das betrifft die allermeisten der damals Geflüchteten - gibt es zahlreiche, viel größere Erfolgsgeschichten. Eine davon hat zum Beispiel unsere „Aktion Neue Nachbarn“ im Erzbistum Köln geschrieben. Seit 10 Jahren helfen immer noch tausende von Menschen aus unseren Gemeinden und Verbänden Geflüchteten aus aller Welt, hier bei uns anzukommen und sich zu integrieren. Und das tolle: Heute helfen auch ehemalige Flüchtlinge mit, neu ankommende Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren, aus Dankbarkeit über das, wie wir sie damals bei uns aufgenommen haben. Sie wollen aus Dankbarkeit darüber etwas zurückschenken und anderen helfen, die sich heute in einer Situation befinden, die ihrer damaligen ähnlich ist. Ich bin dafür zutiefst dankbar und freue mich, dass unsere Initiative solche Früchte getragen hat und trägt und dass das Gute anderes Gutes hervorruft. Die Herausforderungen jedoch werden nicht geringer. Denn der völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine etwa, mitten im Herzen von Europa, fordert uns alle zu Barmherzigkeit, zu Mitmenschlichkeit und Solidarität heraus.
Erneut steht Jesus vor unserer Tür und erinnert uns: „Was ihr für eine meiner Schwestern oder einem meiner Brüder getan habt bzw. tut, das tut ihr mir.“ (vgl. Mt 25,40). Wenn wir die Kirche erneuern wollen - dann gehört dazu auch die Erneuerung dieses Geistes der Nächstenliebe. Und wenn bei uns so oft vom christlichen Abendland die Rede ist, dann sollte uns allen eines klar sein: uneigennützige Nächstenliebe ist Gottesliebe und steht damit im Zentrum unseres christlichen Glaubens.
Ihr
Rainer Woelki, Erzbischof von Köln