"Haben Sie auch so ein Kästlein? So was wie eine kleine Schatzkiste, eine Schmuckschatulle. Eine Bekannte von mir sammelt darin alle Andenken an ihre Ehe, die Liebe ihres Lebens. Alles, was sie an besondere Momente der gemeinsamen Geschichte mit ihrem Mann erinnert.
Da ist der erste Liebesbrief. Ein Zeitungsbericht vom ersten Volksfest, das beide miteinander besucht und wo sie das erste Mal getanzt haben. Kinokarten. Sogar das Eheversprechen. Tagebücher mit Erzählungen von gemeinsamen Erlebnissen. Lieder und Liebesgedichte, die für und über sie zur Hochzeit geschrieben wurden. Und die Geschichte, wie es mit der kleinen Familie weiterging: das Stammbuch. Ein buntes Sammelsurium.
Manchmal, wenn ich auf die so verschiedenen Bücher der Bibel schaue, denke ich an meine Bekannte und ihre Schatzkiste: In der Bibel findet sich nämlich im Grunde ein ganz ähnlich buntes Sammelsurium. Unterschiedliche Texte, ganz verschiedene Gattungen. Aber alle erzählen von der einen großen Liebesgeschichte Gottes zu uns Menschen. Und man kann darin auch Lieder und Gedichte finden. Briefe. Stammbäume. Sogar Verträge zwischen Gott und seinem Volk. Bedeutsame Erlebnisse und vieles andere mehr.
Ich glaube: Wenn man die Bibel richtig verstehen möchte, muss man sie genau in diesem Geist lesen und verstehen – wie die Andenken in der Schatzkiste meiner Bekannten: Im Geist der Liebe zueinander. Denn die Bibel ist ja kein historischer Bericht von irgendeinem unbedeutenden Menschen vor anno tuck. Vielmehr ist sie ja auch Ausdruck einer Liebe, der tiefen Liebe Gottes zu uns Menschen. Und genau um diesen Geist der Liebe dürfen wir immer wieder neu bitten, weil er uns hilft, die Heilige Schrift richtig zu verstehen.
Vielleicht finden Sie ja in diesen Ferientagen Gelegenheit, mal wieder einen Blick in diese besondere Schatzkiste zu werfen. Ich bin mir ziemlich sicher: Sie werden überrascht sein, wie viele Zeugnisse, Geschichten und Zeichen der Liebe Gottes zu uns wir dort finden werden. Und wenn es dann womöglich auch noch ein paar Gleichgesinnte geben sollte ... das Glück, auf diesem Wege davon zu erfahren, so von Gott geliebt zu sein, wäre perfekt. Denn geteilte Freude ist doppelte Freude.
Ihr Rainer Woelki
Erzbischof von Köln"