Wochenimpuls

Ist Nächstenliebe naiv?

"Wahrscheinlich geht es vielen von Ihnen wie mir. Ich bin immer noch geschockt von dem, was am vergangenen Wochenende in Solingen passiert ist. Da wollten Menschen fröhlich und friedlich feiern. Und dann? 

Dann bricht auf einmal, wie aus dem Nichts, das Unfassbare herein. So schnell sind geliebte Menschen ausgelöscht oder schwer verletzt. Ich spüre eine große Traurigkeit und ich bete für die Opfer, deren Angehörige und Freunde. Wenn – wie jetzt geschehen – jemand, der in unserem Land Schutz sucht, selbst Angst, Schrecken und Tod in unsere Mitte bringt, dann verurteile ich diese Taten als Mensch und als Christ. 

Und natürlich stelle ich mir auch Fragen: Wo kommt diese Grausamkeit her? Wie sollen wir angesichts einer solchen Tat reagieren? Was können wir tun, um Ähnliches zu verhindern? Ja, ich stelle mir sogar die Frage: Sind wir als Kirche zu naiv, wenn wir das göttliche Gebot der Nächstenliebe hochhalten und es zu leben versuchen? Wenn wir versuchen, in jedem Menschen eine Schwester oder einen Bruder zu sehen? 

Darauf antworte ich mit einem klaren Nein! Nein, wir sind nicht zu naiv! Es ist richtig und bleibt es auch, Menschen, die in Not sind und Hilfe brauchen, die Hand zu reichen. Das Schicksal derer, die in dieser von Konflikten geprägten Zeit vor Krieg und Not fliehen, muss uns alle berühren! Ganz egal aus welchem Land die Menschen kommen. 

Mit großer Überzeugung habe ich vor zehn Jahren die "Aktion Neue Nachbarn" ins Leben gerufen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagiert. Mit dem Ziel echter Integration leisten hier weiterhin viele Menschen im Erzbistum Köln wirklich Großartiges. Das friedliche Zusammenleben in unserem Land basiert auf Grundlagen, die stark von christlichen Werten geprägt sind und auch in den universellen Menschenrechten ihren Ausdruck finden. 

Das Bekenntnis zu diesen Grundlagen dürfen wir mit Recht von allen verlangen, die bei uns bleiben wollen. Lassen Sie uns aber jetzt auch selbst nicht hinter diese Grundstandards der Menschlichkeit zurückfallen!

Ihr Rainer Woelki
Erzbischof von Köln"

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