Wochenimpuls

Verzichten fängt im Kopf an

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Verzichten fängt im Kopf an, so lese ich dieser Tage auf einem Plakat. Das sitzt! Seit Tagen läuft mir dieser Satz nach: Verzichten fängt im Kopf an! Eigentlich stimmt das ja! Denn: Verzichten fängt im Kopf an, weil es meinen freien Willen voraussetzt. In jedem Leben muss man persönlich entscheiden, worum sich alles dreht. Um das Vergängliche oder um das Unvergängliche. Du musst also selbst entscheiden, was für dich wichtig ist. 

Ich bin mir fast sicher, dass Verzichten ein anderes und vielleicht sogar besseres Wort für Fasten ist. Es macht deutlich, das Fasten nicht hungern bedeutet. Hungern und Hungerleiden müssen auf unserer Erde ohnehin jeden Tag ungezählte Menschen, weil das Nötigste und Notwendigste an Nahrung fehlt und nicht zu haben ist oder gar als militärische oder politische Waffe eingesetzt wird. Fasten und Verzichten hat aber nichts mit erzwungener Entbehrung gemeinsam. 

Verzichten fängt im Kopf an – das hat mit Entscheidungen zu tun. Leben ist, sich entscheiden. Ob wir wollen oder nicht. Auch sich nicht zu entscheiden, ist eine Entscheidung. Wir treffen unsere Entscheidungen nicht in einem Vakuum. Immer sind andere Menschen oder Umstände mit im Spiel, auf die wir zunächst keinen Einfluss haben. Freiheit und Abhängigkeit liegen nahe beieinander. Möglich, dass andere für mich und über mich entscheiden. Ich denke hier z.B. an die pausenlose Werbung, die Herrschaft über mich gewinnen möchte. Sie macht mich, sie macht uns zu Getriebenen immer neuer Ansprüche. Das kann unzufrieden machen. Wir werden atemlos und verlieren die innere Ruhe und auch die Spannkraft, aus der heraus Neues entstehen kann. 

Durch Verzicht und Enthaltung kann ich meine Freiheit trainieren. Mit der Übung der Enthaltsamkeit kann ich alles, was ich habe, als Geschenk erhalten. Müssen wir also vielleicht anspruchslos werden, damit wir uns an allem freuen können, was wir haben?

„Anspruchslos“ ist auch so ein Fremdwort unserer Alltagssprache. Es klingt uns nicht vertraut: „Anspruchslos“. Aber könnte es sein, dass durch „anspruchslos“ ich selbst ansprechbar und ansprechend werde? Beim Propheten Jesaja finde ich das Wort: „Mach einen Plan, triff eine Entscheidung.“ Und der Apostel Paulus erinnert in seinem ersten Brief an die Korinther: „Jeder Wettkämpfer lebt enthaltsam.“ 

Mir scheint: Es geht in diesen Tagen der Fastenzeit um so etwas, wie um einen neuen Lebensstil. Seit jeher stellen sie eine Provokation dar, einen kräftigen Widerspruch gegenüber reich gedeckten Tischen, sinnlos vollgepackten Einkaufswagen und gegen die Angst, etwas zu verpassen. Es geht um die alltägliche Betäubung. Dahinter steht die Einsicht, dass alles, was wir aufnehmen – körperlich oder geistig – unser Leben prägt und unser Befinden maßgeblich beeinflusst. 

Verzichten fängt im Kopf an – das ist die Einladung zu einer Atempause. Verzichten hat nichts mit Körperfeindlichkeit oder Selbstquälerei zu tun. Verzichten macht sensibel und schärft die Sinne. Es bringt uns wieder neu mit der Welt, mit uns selbst und im Letzten auch mit Gott in Kontakt.

Ihr Rainer Woelki
Erzbischof von Köln

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