Es ist ein Schatz, den der Osnabrücker Diözesanarchivar Georg Wilhelm da in Händen hält. Nur mit weißen Handschuhen blättert er in dem Kirchenbuch der Gemeinde Berge (heute Landkreis Osnabrück) aus dem Jahr 1691. Handschriftlich sind die Seiten mit Namen und Daten gefüllt. Erfasst sind die Geburten, Taufen, Hochzeiten und Todesfälle aller Gemeindemitglieder.
Fast 3.000 solcher Bücher aus seinem Gebiet hat das Bistum Osnabrück jetzt online gestellt; 220.000 Seiten mit einer Datenmenge von 133 Gigabyte. Das älteste stammt von 1612. Die jüngsten Einträge beziehen sich auf das Jahr 1898. Danach gibt es erstmals nichts. "Das hat Datenschutzgründe", erläutert Wilhelm. Für Taufen gilt eine Grenze von 120 Jahren, für Eheschließungen von 100 Jahren.
Vor allem die alten Bücher sind für Familienforscher ein Fest, wie Wilhelm weiß. Staatliche Register habe es erst seit 1876 gegeben. Für alles davor seien die Kirchenarchive "die wichtigste serielle Quelle" gewesen, so der Fachmann. Die Aufzeichnungen seien oft der einzige Nachweis, dass eine Person überhaupt existiert habe.
Bis zum 18. Jahrhundert sind die Einträge auf Latein
Die Pfarrer seien seit Jahrhunderten zum Führen der sogenannten Matrikel verpflichtet. Jeder von ihnen habe das zunächst nach eigenen Gutdünken gemacht, was natürlich auch dazu geführt habe, dass Manches unsystematisch erfasst worden sei. Erst später seien die Geistlichen geschult und die Bücher vereinheitlicht worden.
Wer per Familiennamen seine Vorfahren erkunden möchte, muss also nur wissen, zu welcher Gemeinde sie gehörten. Vorausgesetzt, er kann die altdeutsche Handschrift entziffern und ist ein wenig firm in Latein, so dass er "natus" als "geboren", "mortuus" als "gestorben" oder "parentes" als "Eltern" erkennt. Zumindest bis zum 18. Jahrhundert erfolgten die Einträge in der "Kirchensprache".
Auf der Homepage des Bistums führt ein Link zum Online-Portal "matricula", das auch Kirchenbücher aus Österreich, Serbien und Luxemburg für User bereithält. Aus Deutschland nutzen derzeit schon die Diözesen Hildesheim, Magdeburg, Münster, Paderborn und Passau die Plattform.
Einträge verzeichnen zahlreiche Auswanderer in die USA
Der Nutzen geht laut Wilhelm weit über die Ahnenforschung hinaus. Die Einträgen lieferten Erkenntnisse etwa über die Kindersterblichkeit in verschiedenen Epochen, sogar Grippewellen seien ablesbar. Darüber hinaus zeigten sie Wanderbewegungen auf.
Als Beispiel nennt der Fachmann die sogenannten Hollandgänger aus dem nördlichen Bereich des Bistums. Im 17. Jahrhundert gingen Tagelöhner oft über Monate oder Jahre in die damals wirtschaftlich besser gestellten Niederlande zum Arbeiten. Manche blieben ganz dort, mussten sich aber zuvor aus ihrer Kirchengemeinde abmelden.
Verzeichnet sind auch die zahlreichen Auswanderer in die USA. In einigen Gegenden wählte bis zu ein Drittel der Bevölkerung den Weg über den Großen Teich. Aus manchen Gemeinden hätten damals mehr Menschen in den Vereinigten Staaten als in der Heimat gelebt, erläutert Wilhelm. Das mache auch die zahlreichen Anfragen an das Online-Archiv aus den USA verständlich.
Sogar Schriftsteller Erich Maria Remarque archiviert
Sichtlich stolz ist die gesamte Archiv-Crew auf einen prominente Taufbeurkundung. Im Osnabrücker Dom-Buch von 1898 ist sie am 3. Juli verzeichnet. "Erich Paul Remark" ist dort zu lesen. Der Schriftsteller, der sich später Erich Maria Remarque nannte, war elf Tage zuvor in der Stadt geboren worden.
Ein Jahr lang haben Wilhelm und seine Kollegen an der Online-Version der Kirchenbücher aus 145 Pfarrgemeinden gearbeitet. "Nur ein Jahr", wie der Archivar betont. Geholfen habe, dass bis in die 1980er Jahre schon viele Matrikel auf Mikrofiche abgefilmt worden waren und nun nur noch eingescannt werden mussten.
Der Erfolg ihrer Arbeit ist bereits greifbar. Der Kreis eingefleischter Ahnenforscher habe die Bistumseinträge unmittelbar nach der Freischaltung Ende Oktober entdeckt. «Das sind Junkies», so Wilhelm. Bereits jetzt gebe es etwa 1.100 Nutzer täglich. 61.000 Seiten seien bislang geöffnet worden. "Natürlich kostenfrei", betont der Archivar. Das Bistum verstehe das Angebot schließlich auch als Werbung für die Kirche.
Johannes Schönwälder