Im Dom war es still. Und dann: laute Schläge. "Beim letzten Mal waren es 32", erzählt Aachens Dompropst Rolf-Peter Cremer. In der katholischen Kirche wurde das Schloss am Marienschrein geöffnet. Am 9. Juni ist es wieder soweit. Die Zeremonie läutet die Wallfahrt ein. Die Heiligtumsfahrt dauert zehn Tage und hat, wie vieles in Aachen, mit Karl dem Großen zu tun.
Vier Stoffe im Zentrum
Im Zentrum stehen vier sehr alte Stoffe, die als Windeln von Jesus, Kleid Mariens, Enthauptungstuch Johannes des Täufers und Lendentuch Christi bezeichnet werden. Untersuchungen ergaben, dass die Stoffe in den Jahren zwischen 300 und 500 entstanden sind. Überliefert ist, dass Karl der Große (748-814) die Stoffe aus Jerusalem als Geschenk bekam für seine neue Kapelle in Aachen, das Herzstück des Doms und heutige Unesco-Weltkulturerbe.
Im Mittelalter waren diese als Heiligtümer verehrten Stoffe berühmt. Damals gehörte Aachen mit Rom, Santiago und Jerusalem zu den bedeutendesten Wallfahrtsorten, wie die Organisatoren berichten. Im 15. Jahrhundert entstand eine Chorhalle, um die Besucherströme besser durch die Kirche zu lenken.
Echtheit spielt keine Rolle
Ob die Stoffe echt sind? Wallfahrtsleiter Cremer meint, die Frage spiele keine große Rolle mehr. Die Stoffe hätten schon durch ihr Alter eine besondere Würde und dadurch, dass sie an Jesus, Maria und Johannes erinnerten. "Mein Zugang ist immer, dass sie auch dadurch eine Bedeutung haben, dass im Laufe der Jahrhunderte Millionen gläubige Menschen davor gestanden und gebetet haben", sagt er.
Bis zum 19. Juni werden etwa 100.000 Pilger in Aachen erwartet. Ein anderer Wallfahrtsort im Rheinland, Kevelaer, rechnet mit mehreren 100.000 Besuchern. Die Saison in Kevelaer ist aber viel länger, sie dauert von Mai bis zum 1. November.
Nur alle sieben Jahre
Seit 1349 werden die Textilien nur alle sieben Jahre gezeigt. Gehütet werden sie wie ein Schatz. Sie liegen im edelsteinverzierten,goldenen Marienschrein aus dem Mittelalter. Zu den Besonderheiten gehört, dass die Stadt Aachen seit 1425 ein Konkustodienrecht hat und damit mitverantwortlich ist für die Reliquien.
Dieses Recht nimmt die Stadt immer noch wahr: Die diesmal für das Aufschlagen und Verschließen verantwortlichen Goldschmiede haben ihren Eid vor Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen abgelegt. Zu Beginn der Wallfahrt prüfen Keupen und Dompropst Cremer, ob Schloss und Siegel unversehrt sind. Entfaltet wird nur das Kleid Mariens. Die antike Webarbeit ist 153 Zentimeter lang, der Saumumfang beträgt stattliche 246 Zentimeter.
Fuß, Rad, Motorrad
Wegen der Corona-Pandemie wurde die Heiligtumsfahrt von 2021 auf 2023 verschoben. Gepilgert wird zu Fuß, auf dem Rad oder Motorrad. Manche kommen in historischen Kleidern. Anmeldungen gibt es auch aus den USA, der Tschechischen Republik und aus Ungarn. Die meisten Besucher kommen aus der Region. Täglich gibt es Gottesdienste mit bekannten Geistlichen der katholischen Kirche wie dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und Limburger Bischof Georg Bätzing. Abends wird Kultur geboten, zum Beispiel ein Mitsingabend mit dem Sänger und ehemaligen Grand-Prix-Teilnehmer Guildo Horn.
Am Ende der Wallfahrt am 19. Juli werden die Reliquien verschlossen. Dann wird das Schloss verriegelt und ausgegossen. Der Schlüssel wird in zwei Teile gesägt: Eine Hälfte bekommt das Domkapitel, die andere die Stadt. Die nächste Heiligtumsfahrt ist 2028.