Aigner besucht Andachtsraum für Opfer sexuellen Missbrauchs

Unterwössen setzt Zeichen - doch nicht alle wollen es wahrhaben

Seit Herbst 2022 gibt es in der Unterwössener Pfarrei Sankt Martin einen Andachtsraum. Er erinnert an die Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen Pfarrer. Am Freitag war Landtagspräsidentin Ilse Aigner dort zu Besuch.

Autor/in:
Barbara Just
Ilse Aigner, Präsidentin des Bayerischen Landtags, Künstler Andreas Kuhnlein (m.) und Christoph Klingan, Generalvikar von München und Freising, am 24. März 2023 im Andachtsraum der Kirche Sankt Martin in Unterwössen / © Robert Kiderle (KNA)
Ilse Aigner, Präsidentin des Bayerischen Landtags, Künstler Andreas Kuhnlein (m.) und Christoph Klingan, Generalvikar von München und Freising, am 24. März 2023 im Andachtsraum der Kirche Sankt Martin in Unterwössen / © Robert Kiderle ( KNA )

Nur wenige Kilometer vom Chiemsee entfernt liegt Unterwössen. Ein oberbayerischer Fremdenverkehrsort in einer Bilderbuchlandschaft, umgeben von Bergen, durchzogen von einem Bacherl, in seiner Mitte die Pfarrkirche Sankt Martin mit ihrem Zwiebelturm.

Als Kurienkardinal war Joseph Ratzinger hier gern zu Gast. Denn ein guter Freund von ihm, Pfarrer Franz Niegel (1926-2017), sorgte dafür, dass im Gotteshaus echte bayerische Volksmusik erklang, von Annette Thoma bis zum Kiem Pauli. Kündigte sich Besuch aus Rom an, war der Gottesdienst voll. Das katholische Leben war hier in Ordnung - so schien es.

Niemand glaubte den Betroffenen

Niegel übernahm die Pfarrei 1963 und leitete sie bis zu seinem Ruhestand 1997. Was sein Vorgänger, den man nach Österreich versetzt hatte, auf dem Kerbholz hatte, darüber sprach man nicht. Es gab nur Gerüchte. Ein leutseliger Typ soll dieser gewesen sein, Mitglied bei den Schützen und ein guter Skifahrer. Dass er Ministranten sexuell missbraucht hatte, wollte keiner wahrhaben. Im Gegenteil: Den acht Betroffenen glaubte keiner, man warf ihnen sogar vor, dafür bezahlt worden zu sein.

Erst als 2010 der Missbrauchsskandal bundesweit die katholische Kirche erschütterte, kam das Thema auch in Unterwössen wieder auf. Der aus der Gegend stammende Alois Glück, damals gerade Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken geworden, sprach mit einem der Opfer: "Da habe ich erstmals annäherungsweise verstanden, was das für Betroffene bedeutet", bekannte er am Freitag.

Idee für Andachtsraum entstand 2015

Der Mann war inzwischen wegen der ständigen Anfeindungen mit seiner Familie längst weggezogen. Es habe lange gedauert, bis ein Problembewusstsein für das Thema entstanden sei, räumte der CSU-Politiker ein. Immer sei das Ansehen der Institution wichtiger gewesen als der Mensch.

Als 2015 Sankt Martin generalsaniert wurde, wünschte sich Pfarrer Martin Straßer einen eigenen Andachtsraum. Im Laufe der Planung mit dem Bildhauer Andreas Kuhnlein wurde deutlich, dass dies ein Ort nicht nur für die zentrale Botschaft des christlichen Glaubens werden sollte. Dem Künstler war es ein Anliegen, auch an das Leid der Opfer und an die Aufarbeitung zu erinnern. Den "ewig dummen Leuten" habe er klar machen wollen, nicht die Buben seien die Schuldigen gewesen, sondern der Pfarrer und die Kirche, so Kuhnlein.

Eröffnung 2022

Er schrieb an Kardinal Reinhard Marx und bekam sehr bald schon grünes Licht für den Plan, auch der Betroffenenbeirat der Erzdiözese unterstützte das Vorhaben. Bis es den vollen Rückhalt beim Gemeinderat (nur eine Gegenstimme) fand, dauerte es am Ende mit allen anderen Verzögerungen sieben Jahre. Im Herbst 2022 wurde der nur sieben Quadratmeter große Raum unterhalb des Turms eröffnet. Dafür war der Putz aus den 1960er Jahren komplett abgeschlagen worden und das "wunderbare alte Mauerwerk kam durch", so Kuhnlein.

Am Freitag kam Landtagspräsidentin Ilse Aigner angereist, um sich ein Bild zu machen. Eine Herzensangelegenheit sei es ihr dies gewesen: "Ich bin Katholikin und habe einen festen Glauben, der mir immer wieder geholfen hat, Krisen zu überstehen." Sie wünsche sich deshalb eine Kirche, die sich erneuere, und auch in Zukunft ihren Platz in der Gesellschaft habe. Kuhnlein, der drei von den Opfern persönlich kennt, dankte sie für seinen Einsatz.

"Viele wollten die Wahrheit nicht hören"

Zwei Kreuzwegstationen hat der Holzkünstler als Reliefs gestaltet: die Verurteilung Jesu - weil man einen Schuldigen immer braucht, wenn was passiert sei und weil auch die Missbrauchsopfer stigmatisiert worden seien wie er. Bei der Kreuzigung kam es Kuhnlein vor allem auf die Leute an, die dabei stehen.

Jene, die wirklich trauern, aber auch jene, die Jesus ans Kreuz haben wollten. In einem der Fenster wird daran erinnert: "Viele wollten die Wahrheit nicht hören. Auch den Opfern des Missbrauchs wurde durch das Schweigen der Kirche viel Leid zugefügt. Herr erbarme dich."

 

Quelle:
KNA