So in etwa muss es aussehen – nach einem Tsunami, wenn sich die Naturkatastrophe Bahn gebrochen, die gigantische Welle ihr unbarmherziges Zerstörungswerk angerichtet und ein Trümmerfeld hinterlassen hat, aus dem die willkürlich verstreuten Elemente einstiger Zivilisation wie Relikte von Ordnung und zu ahnender Strukturen als wirre Mahnmalen herausragen. Als eine auf dem Kopf stehende, aus den Fugen geratene Welt – vergleichbar den zu Momentaufnahmen eingefrorenen "Fallenbildern" eines Daniel Spoerri.
Jedenfalls präsentiert sich mit solchen Assoziationen das Bühnenbild zu "Jeanne d’Arc", der zwischen 1938 und 1942 von Walter Braunfels geschriebenen Oper mit "Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna". Überall unbrauchbar gewordene Überreste menschlichen Lebens, eben Müll: ein versenkter Autotorso, ein hochkant aufgerichteter Konzertflügel, das zerborstene Motorflugzeug, gestrandete Holzkanus – aufgetürmt bis sprichwörtlich unters Dach. Als sperriges Hindernis.
Dem Weltchaos Verantwortlichkeit entgegensetzen
Und doch mittendrin der Mensch in seiner Verletzbarkeit, mit seiner Geschichte, seinen Visionen. Der sich allen Barrieren zum Trotz zur Wehr setzt und der Vernichtungsmaschinerie sein Credo an das Gute, den Ausweg und den Neubeginn entgegenhält. Der Interpretationsspielraum der überladenen Kulisse ist grenzenlos – so wie die Phantasie des Opernbesuchers, dem seinerseits kaum Übersetzungshilfen zur Seite gestellt werden, der sich aber berühren lässt von diesem so eindringlich erzählten Schicksal einer zu Lebzeiten verkannten Heiligen.
Zufall oder nicht – deren Geschichte wurde nun passgenau drei Jahre nach ihrer Kölner Erstaufführung als Wiederaufnahme am Palmsonntag im Staatenhaus präsentiert; an einem Tag, an dem gläubige Christen seit mehr als 2000 Jahren jemanden ins Zentrum stellen, der erst als König bejubelt und gefeiert wird, dann aber in den Augen seiner Anhänger kläglich am Kreuz scheitert und zunächst – hier liegt eine wenn auch kaum beabsichtigte Parallele – alle Hoffnungen auf einen Neuanfang zunichte macht.
Nicht ganz so lang liegt das Scheitern der "Jungfrau von Orleans" zurück. Doch das ist letztlich für das Grundanliegen der Inszenierung von Tatjana Gürbaca auch unerheblich. Denn im Stück und auch der 1973 in Berlin geborenen Regisseurin geht es schließlich um ein universell gültiges Thema: dem politischen Weltchaos die Verantwortlichkeit des Individuums entgegenzusetzen. So lautet daher ihr eher kryptische Appell, Brücken zu bauen zwischen scheinbar unvereinbaren Parteien und politischen Interessen.
Johanna handelt politisch und hat Visionen
Wer mit den biografischen Eckdaten der Johanna vertraut ist, mit der Literaturvorlage zur jungfräulichen Kriegerin in Männerkleidung, die die französischen Truppen 1429 im sogenannten hundertjährigen Krieg gegen die englischen Besatzer anführt und als Märtyrerin endet, der begreift ohnehin, dass hier höhere Mächte mit im Spiel sind. Und der wird bei diesem ins Heute transferierten Musiktheater auch kaum die eher selbstverständlich erwartete Kathedrale von Reims vermissen oder die fürs Mittelalter üblichen Requisiten und prachtvollen Kostüme, die hier stattdessen von nüchterner, schmuckloser und oft genug ironischer Alltäglichkeit sind. Wer ist hier unterwegs? Ein gemartertes Volk oder in Zeiten weltweiter Migrationsströme um Erbarmen ringende Flüchtlingskarawanen?
"Entscheidend ist doch der Inhalt, das heißt der Auftrag, den Johanna angenommen hat, als sie verstanden hat, dass Gott etwas ganz Besonderes mit ihr vorhat", sagt Laura Peters. Die 13-Jährige, die bereits zum fünften Mal als Mitglied des Mädchenchores am Kölner Dom bei einem der regelmäßigen Opernprojekte der Kölner Dommusik mit dabei ist, kennt aus dem Geschichtsunterricht alle wissenswerten Fakten über "Jeanne d’Arc", dem Bauernmädchen mit der Berufung zum politischen Handeln aufgrund ihrer religiösen Visionen. "Mich beeindruckt, dass sie schon ganz jung Gott vertraut hat und sich sogar mit ihrem Vater angelegt hat, um in die Kirche gehen zu können." Trotzdem sei es tragisch, fügt Helena hinzu, dass sie am Ende auf dem Scheiterhaufen verbrannt werde. "Denn ihre Mission war gut. Und sie war mutig", betont die Elfjährige. "Zu Unrecht wird sie als Ketzerin verurteilt und mit dem Tod dafür bestraft."
Die Inszenierung aktualisiert den historischen Stoff
Die Mädchen und Jungen der Dommusik tragen gelbe Umhänge, die an mittelalterliche Messdienerkleidung erinnern sollen. Im zweiten Bild der Oper, das mit "Triumph" überschrieben ist, schreiten sie in langer Prozession quer durch den Zuschauerraum über einen Steg, der das Orchester in zwei Teile trennt, zur Bühne. Dabei tragen sie die nicht enden wollende Schleppe des Erzbischofs von Reims und begleiten das sakral überhöhte Spektakel mit kirchlich-katholischen Gesängen.
Gürbaca aktualisiert den Stoff der Heiligen Johanna, für den der Komponist Walter Braunfels auf der Grundlage der originalen Prozessakten und unter der Einwirkung des Nationalsozialismus auch das Libretto selbst geschrieben hat, zum Teil mit verstörenden Bildern und sorgt damit stellenweise bewusst für Irritation: So bleibt in der Tat die Rolle des Chores, dessen Bedeutung von Szene zu Szene wechselt, aber zentral ist, ungeklärt. Auch die Interpretation der beiden Heiligen Katharina und Margarete, die Johanna im Traum erscheinen, erschließt sich nicht vollends. Der dagegen linkisch agierende Thronfolger Karl, wenn er im Schlafanzug – vollkommen der Lächerlichkeit preisgegeben – über die Bühne tänzelt, dagegen schon. "Es ist ein hochaktuelles Stück, das durch die Figuren und die Musik direkt zu uns spricht. Die porträtierte Welt ist in Verunsicherung, Aufruhr und Chaos – und Braunfels zeichnet das Bild einer Person, die die Menschen zu Verantwortlichkeit für ihre Welt aufruft", sagt Gürbaca selbst dazu und überlässt weitere Denkansätze oder Decodierungen verschlüsselter Botschaften bewusst dem Zuschauer.
Oliver Sperling: "Das ist geniale Musik"
Tatsache ist, dass diese Oper des "Halbjuden" Braunfels und späteren Konvertiten zum Katholizismus, der in 1920er Jahren zu einem der meistgespielten Opernschöpfern seiner Zeit zählte, von den Nazis aber dann mit einem Aufführungsverbot seiner Musik belegt wurde und nach dem Krieg nicht wieder an seine Glanzzeit anknüpfen konnte, posthum viele Fans hat. Allen voran Intendantin Birgit Meyer, wenn sie sagt: "Seine Musik ist nicht nur schön, sondern auch authentisch, ehrlich, um Wahrheit bemüht. Die Figur der Johanna hat er mitreißend dargestellt. Diese Reinheit, dieser Idealismus, diese Kraft inmitten von Intriganten!" Auch Domkantor Oliver Sperling, der gemeinsam mit Domkapellmeister Eberhard Metternich die vielen Szenenproben der Sängerinnen und Sänger beider Kinderchöre am Dom von Anfang an begleitet hat, schwärmt: "Das ist geniale Musik."
Braunfels Musik galt als "entartet"
"Die musikalische und historische Dimension dieses Stücks ist für Köln von großer Bedeutung", urteilt Metternich "Was heute kaum noch jemand weiß: Braunfels zählte neben Schönberg, Richard Strauss und Hindemith zunächst zu den ganz großen spätromantischen expressionistischen Komponisten der Weimarer Zeit und ist zudem eines der Gründungsmitglieder der Kölner Musikhochschule", sagt er. "Auch wenn seine Kunst ab 1933 als ‚entartet’ galt – er hatte zehn Jahre zuvor der Bitte Hitlers nach einer Parteihymne nicht entsprochen – konnte er nach Kriegsende unter Adenauer die pädagogische Ausbildungsstätte wieder neu etablieren." Deshalb verdanke ihm die Kölner Kulturszene viel. "Johanna" gelte nicht gerade als leichte Kost – auch für die Kinder nicht. "Aber die emotionale Berührung kommt mit der Kenntnis dieser Musik. Über das Einhören gewinnt man allmählich immer mehr Nähe", erklärt Metternich. Andererseits hätte der Kinderchor geradezu eine Parade-Rolle. Mit dem "Gloria patri et filio…" könnte er stellenweise sogar eine Art geistlicher Atmosphäre schaffen, auch wenn es sich beim letzten Einsatz nur um eine pseudogottesdienstliche Szene handele.
Mahnung, für eigene Überzeugungen einzutreten
Erst spät, im 21. Jahrhundert, fand das Werk "Jeanne d’Arc" sein Publikum; die konzertante Uraufführung fand 2001 in Stockholm statt, die szenische 2008 in Berlin. Viele faszinierende Details mit durchaus beabsichtigten Widersprüchlichkeiten halten sich die Waage bei dieser Braunfels-Inszenierung: zum einen katholischer Prunk und Kitsch, wie man ihn kennt und fürchtet, zum anderen eine Fülle ironischer Zwischen- und Untertöne in den oft überparaphrasierten Gesten, Symbolen und Anspielungen – auch auf manches, was in der katholischen Kirche im Argen liegt.
Fazit: Braunfels selbst kann nur über seine Musik verstanden werden. Er hatte zur Entstehungszeit seiner Komposition nicht damit rechnen können, "Johanna" als Ganzes zu erleben. Was ihm aber mit Fug und Recht unterstellt werden darf, ist eine mit diesem Stoff bewusst getroffene Wahl und eine sich daraus ableitbare Mahnung, die auch fast 80 Jahre nach Entstehung dieser Oper aktueller denn je gilt: für die eigenen Überzeugungen einzutreten, dafür auch manchmal gegen den Zeitgeist anzukämpfen und – dazu ruft gerade diese Inszenierung kompromisslos auf – in den Müllbergen der Beliebigkeit unmissverständliche Marksteine der Orientierung zu setzen.