Die Zahlen sind alarmierend: Mehr Jungen und Mädchen wurden im vergangenen Jahr Opfer von sexueller Gewalt. Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2019 registrierte 15.936 Fälle, im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg von mehr als 1.000 Fällen. Zudem stieg die Zahl der gemeldeten Fälle der Verbreitung von Kinderpornografie: 12.262 Fälle registriert die Statistik, eine Steigerung um 65 Prozent. Noch erschreckender dabei: Häufig waren es Jugendliche, die das Material verbreiteten und über Messenger-Dienste mit Freunden teilten.
Was den Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, dabei weiter umtreibt, ist die Sorge, dass trotz der alarmierenden Zahl in Zeiten von Corona der Kinderschutz als weniger wichtig angesehen wird. Dabei seien Kinder durch häusliche Isolation noch größeren Gefahren familiärer Gewalt ausgesetzt, befürchtet er. Zwar seien bislang nicht mehr Fälle gemeldet worden. Beruhigen könne das allerdings nicht. Denn es fehle trotz der inzwischen stattfindenden Lockerungen der Kontakt zu helfenden Einrichtungen wie Kitas oder Schulen, die den Jugendämtern häufig Auffälligkeiten mitteilten.
Starker Anstieg der Beratungsgespräche
Mehr Anrufe verzeichnet unterdessen die Telefonberatung "Nummer gegen Kummer" (kostenlose Telefonnummer 116111), von März auf April sind Beratungsgespräche um 50 Prozent laut der Organisation angestiegen.
Laut Expertenmeinung findet sexuelle Gewalt am häufigsten innerhalb der engsten Familie statt - diese Taten machen rund ein Viertel der Fälle aus. Weitere 50 Prozent der Gewalttaten werden im weiteren Familien- und Bekanntenkreis verübt. Sexuelle Gewalt durch Fremdtäter sei dagegen die Ausnahme, so der Missbrauchsbeauftragte.
Aufruf zum Kampf gegen sexuelle Gewalt
Rörig dringt deshalb darauf, den Kampf gegen sexuelle Gewalt trotz Corona-Krise weiter voranzutreiben. "Nur wenn sich alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte zusammentun und auch nach der Krise ihr Bestes geben, erreichen wir in Deutschland endlich den ersehnten Rückgang der Missbrauchszahlen", so der Beauftragte. Rörig plädiert im Kampf gegen Kinderpornografie auf eine EU-rechtskonforme Vorratsdatenspeicherung. Die Täter dürften sich nicht mehr so sicher wie bisher vor Entdeckung fühlen. Die Rechte der Polizei müssten erweitert werden, um wirksam im Darknet zu ermitteln.
Beim Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, stößt das auf Zustimmung. Münch wird zudem nicht müde zu betonen, dass die Zahlen nur das sogenannte Hellfeld anzeigen. Sie ließen aber keine Rückschlüsse auf die tatsächlich begangenen Taten zu, weil viele Delikte nicht zur Anzeige gebracht würden. Das Dunkelfeld sei hoch und die Auflagen in der Corona-Pandemie könnten dazu beitragen, dass Konflikte in Familien eskalierten.
Schwierige Aufgabe in der Corona-Krise
Ein Blick in die Statistik zeigt, dass Thüringen unter den Bundesländern eine traurige Spitzenposition einnimmt. Pro Einwohner werden dort die meisten Fälle von Kindesmissbrauch registriert. Es folgen Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Die wenigsten Fälle registrieren Bayern, Hessen, das Saarland und Hamburg. Münch erklärte dazu, die Zahlen seien Momentaufnahmen und zeigten die gemeldeten Fälle, weitere Angaben machte er nicht dazu.
Rörig setzte noch einen weiteren Schwerpunkt: In den Schulen müsse es mehr Unterricht in Medienpädagogik geben. Mit Blick auf die Verbreitung von kinderpornografischem Material durch Jugendliche müsse es dabei auch um Fragen von Ethik und Menschenwürde gehen.
Und: Es sei schon vorher schwer gewesen, mit dem Thema Kinderschutz in Politik und Zivilgesellschaft durchzudringen. "Nur ein Bruchteil der Kraft, die jetzt im Kampf gegen Corona und seine Folgen eingesetzt wird, würde in meinem Themenfeld schon bahnbrechende Verbesserungen bringen und vielen tausend Mädchen und Jungen lebenslanges Leid ersparen." Der Kampf gegen Missbrauch und Folgen sei eine nationale Aufgabe.