"I have a Dream" – Ich habe einen Traum. Dieser Satz des US-Bürgerrechtlers Martin Luther King Jr. aus dem August 1963 sollte in die Geschichte eingehen. Menschen sollten andere nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilen, sondern nach ihrem Charakter. Experten sagen, dass diese Rede beim "March on Washington" zum großen Teil dazu beigetragen habe, die Rassentrennung in den USA zu beenden.
Weniger bekannt ist eine andere Rede, die der Baptistenprediger ein Jahr später in der Ostberliner Marienkirche am Alexanderplatz halten sollte. Für die Menschen in Ostberlin war sie mindestens genau so wichtig, wie die Rede in Washington.
Einladung von Willy Brandt
Bereits 1961 hatte der Westberliner Bürgermeister und spätere Bundeskanzler Willy Brand bei einem USA-Besuch nicht nur den damaligen Präsidenten John F. Kennedy getroffen, sondern auch den schwarzen Bürgerrechtler King und ihn direkt zu einem Besuch in die geteilte deutsche Hauptstadt eingeladen. Die Trennung von Menschen durch Mauern oder durch Rassengesetze, hat King sein Leben lang bewegt. Deshalb hat er drei Jahre später, im September 1964, Brandts Einladung angenommen.
Was zum Zeitpunkt der Einladung keiner wissen konnte: Nur wenige Monate nach Brandts Besuch in Washington im März 1961 rückte Berlin ins Licht der Weltöffentlichkeit, als am 13. August der Bau der Mauer begann, die die Stadt an der Spree für 28 Jahre in zwei Hälften teilen sollte.
Kontakt mit Berliner Pfarrer
King hatte in dieser Zeit nicht nur Kontakt mit Brandt gehalten, sondern auch mit dem Propst der Ostberliner Marienkirche, Heinrich Grüber, der von Hitler noch ins KZ gesteckt wurde und später der einzige deutsche Zeuge im Prozess gegen Adolf Eichmann war.
Die Homepage der Marienkirche zitiert Grübers Bitte an King, doch nicht nur dem offiziellen Programm im Westen der Stadt beizuwohnen, sondern auch die evangelische Gemeinde jenseits der Mauer zu besuchen: "Aus der Verbundenheit desselben Glaubens und auch derselben Hoffnung schreibe ich, weil ich weiß, dass Ihre Erfahrungen dieselben sind wie die unsrigen." So beschloss King dann auch, auf die andere Seite der Mauer zu kommen. Doch das war gar nicht so einfach.
Angespannte Stimmung an der Grenze
Nach dem offiziellen Besuchsprogramm am 12. September, wo er unter anderem die Predigt beim evangelischen "Tag der Kirchen" vor 20.000 Besuchern in Westberlin hielt, entschloss sich King am Morgen des 13. September 1964 über die Grenze zu fahren. Am "Checkpoint Charlie" wollte man ihn zunächst nicht passieren lassen, bis den Grenzbeamten bewusst wurde, welcher prominente Gast da in den Ostteil der Stadt wollte. Nach ein paar Telefonaten gab es dann die Bitte an King, sich doch irgendwie schriftlich auszuweisen. Da er seinen Reisepass nicht dabei hatte, gab er den Beamten spontan seine Kreditkarte in die Hand.
Die Stimmung war angespannt an diesem Septembermorgen an der Grenze. Erst wenige Stunden zuvor versuchte ein 21-jähriger Ostberliner in den Westen zu flüchten, wurde durch Schüsse schwer verletzt, konnte aber noch von einem amerikanischen Soldaten über die Mauer gezogen und auf der Westseite versorgt werden. King sah sich die Stelle der Flucht an der Mauer an und stattete dem verletzten Flüchtling im Krankenhaus einen Besuch ab. Die Gewalt war an diesem Morgen in allen Köpfen gegenwärtig als Martin Luther King in den kommunistischen Ostteil der Stadt eintrat.
Wie ein Lauffeuer
Offiziell wusste von diesem Spontanbesuch kaum jemand etwas, trotzdem verbreitete sich die Nachricht im Osten der Stadt wie ein Lauffeuer. Bis auf den letzten Platz war die Marienkirche am Alexanderplatz besetzt, als der prominente Gast aus den USA die Kanzel betrat. Selbst vor der Kirche sollen noch 1.000 Menschen gestanden haben. So viele, dass King seine Predigt – die gleiche wie beim "Tag der Kirchen" – dann noch mal in der nahegelegenen Sophienkirche wiederholte.
"Hier sind auf beiden Seiten der Mauer Gotteskinder, und keine durch Menschenhand gemachte Grenze kann diese Tatsache auslöschen." Worte, die viele Menschen in der damals gerade mal 15 Jahre alten DDR bewegten. King verkörperte gewaltlosen Widerstand gegen staatliches Unrecht.
Ein Besuch mit Folgen
Knapp 30 Jahre später sollten viele von ihnen selbst zum gewaltlosen Protest auf die Straßen von Berlin, Leipzig, Dresden, Erfurt und vielen anderen ostdeutschen Städten gehen, um ohne einen einzigen Schuss ihr eigenes Unrechtssystem zu Fall zu bringen. Einige von ihnen werden sich dabei sicher an die bewegenden Worte des 13. September 1964 in der Berliner Marienkirche erinnert haben.
Am gleichen Abend noch machte sich Martin Luther King auf den Rückweg nach Westberlin. Für seinen Einsatz für Bürgerrechte sollte er keine vier Jahre später, im April 1968 in Memphis, Tennessee, sein Leben lassen. Heute erinnert sich die Welt an seinen gewaltlosen Protest in den USA. Doch auch die Geschichte des geteilten Berlins hat er ein klein wenig mitgeprägt.