Mit Angst und Wut sehen die Muslime von Kaschmir dem islamischen Opferfest am Montag entgegen. Die indische Armee hat mit Zehntausenden Soldaten den ehemaligen teilautonomen Staat Jammu und Kaschmir einschließlich der Moscheen fest im Griff.
Wie wenig sich Narendra Modi um religiöse Traditionen schert, wenn es dem hindunationalistischen Regierungschef zur Durchsetzung seiner Politik dient, bewies er bei der Vorbereitung des Coups der totalen indischen Machtübernahme in Kaschmir. Ohne Angabe von Gründen wurden schon kurz vor der Verfassungsänderung am 5. August hinduistische Pilger auf dem Weg zur heiligen Höhle Amarnath zum Abbruch ihrer Pilgerreise und Verlassen Kaschmirs aufgefordert. Die Höhle liegt im Himalaya und zieht jährlich Zehntausende Hindupilger an.
Idee gegen Indiens Vielfalt?
Mit der Degradierung Kaschmirs und des mehrheitlich buddhistischen Teils Ladakh zu Neu Delhi direkt unterstellten Unionsterritorien erfüllt Modi eine Forderung, die die islamfeindlichen Hindunationalisten seit Jahrzehnten stellen. Denn ihnen gilt das mehrheitlich muslimische Kaschmir als die Geburtsstätte des Hinduismus.
Kritiker sind entsetzt und schockiert über Modis Schachzug. "Die Grundidee von Indien ist die Einheit in Vielfalt, indem man gegenseitig die Empfindlichkeiten der anderen respektiert. Diese komplett niederzuwalzen, um eine einzige Agenda durchzusetzen, demoliert den Geist von Indien", sagte der auf Sicherheitspolitik spezialisierte indische Journalist Josy Joseph dem asiatischen katholischen Pressedienst Ucanews.
Woher der Konflikt rührt
Kaschmir ist einer der weltweit gefährlichsten geopolitischen Brennpunkte und zugleich einer der am stärksten militarisierten Orte der Erde. Sowohl Indien als auch Pakistan beanspruchen Kaschmir in seiner Gesamtheit und haben deswegen bereits vier Kriege ausgefochten. Beide Staaten haben sich wegen des Kaschmirkonflikts atomar bewaffnet.
Der Konflikt hat seinen Ursprung in der Teilung von Britisch-Indien 1947 in das mehrheitlich islamische Pakistan und das mehrheitlich hinduistische Indien. Das vorwiegend islamische Fürstentum Kaschmir sollte selbst entscheiden, welchem Staat es sich anschließen wollte. Als paschtunische Krieger aus Pakistan den Westen Kaschmirs besetzten, rief der damals regierende hinduistische Maharadscha Hari Singh die indische Armee zur Hilfe und erklärte im Oktober 1947 den Beitritt seines Fürstentums zu Indien.
Beobachter sind beunruhigt
Kritiker der Entscheidung Modis zur Machtübernahme in Kaschmir befürchten nun eine Hinduisierungswelle. Inder aus anderen Teilen des Landes ist es ab sofort erlaubt, Land in Kaschmir zu erwerben. Vor allem hinduistische Stiftungen stehen in den Startlöchern, um entlang der Pilgerstraße nach Amarnath Grundstücke zu kaufen.
Allerdings könnte der Traum eines hinduistischen Immobilienbooms schnell platzen. Die seit Jahrzehnten im indischen sowie im pakistanischen Teil Kaschmirs aktive Widerstandsbewegung gegen die Vorherrschaft Indiens wird die "Neuordnung" laut Beobachtern nicht geduldig hinnehmen - auch wenn die indischen Sicherheitsbehörden in den letzten Tagen Hunderte von Politikern, Abgeordneten, Journalisten und Dissidenten in Kaschmir festgenommen haben sowie Telefonleitungen und Internet gekappt haben.
Krise während des Opferfests
Das offizielle Pakistan reagierte jetzt zunächst mit der Abberufung seines Botschafters aus Indien und die Suspendierung des Handels mit dem großen Nachbarn auf die neue Situation in Kaschmir. Nach Ansicht von Sicherheitsexperten ist jedoch die Gefahr eines (Atom-)Kriegs zwischen Pakistan und Indien gestiegen. Unter der Überschrift "Modis Endlösung" betonte Ashraf Jehangir Qazi, der als ehemaliger Botschafter Pakistans in den USA, Indien und China wirkte, am Samstag in einem Kommentar für die pakistanische Tageszeitung "Dawn": "Die nächsten Tage sind entscheidend."
Vor dem islamischen Opferfest hat Indien am Sonntag laut Regierungsangaben die restriktiven Maßnahmen in Kaschmir etwas gelockert. Kaschmiri in der Hauptstadt Srinagar dürfen von Telefonen in Behörden mit der Außenwelt sprechen - aber nur für zwei Minuten und unter Aufsicht von Soldaten.