Argentinier betreibt Verharmlosung vor Parlamentswahl

Die Militärdiktatur soll wieder salonfähig werden

Argentinien hat die Zeit der Militärdiktatur vergleichsweise gut aufgearbeitet. Die Armee spielt in der Politik keine Rolle, ein "Nie Wieder!" ist gesellschaftlicher Konsens. Doch das könnte sich nun ändern.

Autor/in:
Gerhard Dilger
Der Politiker Javier Milei (l.), Präsidentschaftskandidat für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Argentinien 2023, am 25. September 2023 bei einer Wahlkampfveranstaltung in San Martin (Argentinien) / © Tobias Käufer (KNA)
Der Politiker Javier Milei (l.), Präsidentschaftskandidat für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Argentinien 2023, am 25. September 2023 bei einer Wahlkampfveranstaltung in San Martin (Argentinien) / © Tobias Käufer ( KNA )

Was Javier Milei sagt, wäre noch vor Kurzem undenkbar gewesen. Der selbst ernannte "Anarchokapitalist" könnte das nächste Staatsoberhaupt Argentiniens werden und betreibt eine gezielte Verharmlosung der Militärdiktatur (1976-83) – die wohl grausamste Lateinamerikas. "In den 70er Jahren gab es einen Krieg, die Sicherheitskräfte begingen Exzesse, aber die Terroristen töteten, legten Bomben und begingen auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit", sagte er kürzlich in einer TV-Debatte der Präsidentschaftskandidaten. Der 52-Jährige gilt als Favorit für die Wahl am 22. Oktober.

Javier Milei, Kandidat der Partei "La Libertad Avanza" für die Präsidentschaftswahl 2023 in Argentinien, am 1. August 2023 in seinem Haus in Buenos Aires (Argentinien). / © Tobias Käufer (KNA)
Javier Milei, Kandidat der Partei "La Libertad Avanza" für die Präsidentschaftswahl 2023 in Argentinien, am 1. August 2023 in seinem Haus in Buenos Aires (Argentinien). / © Tobias Käufer ( KNA )

Profit durch Frustration 

Milei gehört zu jenen rechtsextremen Politikern in Lateinamerika, die von der Frustration über Wirtschaftskrise und Korruption profitieren. Eine Inflation von 124 Prozent stürzt in Argentinien immer mehr Menschen in die Armut. Noch vor Monaten wurde der exzentrische Ökonom, der für einen radikalen Staatsabbau eintritt, weithin belächelt. Nun lehrt er die regierenden Peronisten und die liberalkonservative Opposition das Fürchten.

In diesem Jahr feiert das Land 40 Jahre Rückkehr zur Demokratie. Seine Aufarbeitung der Diktatur gilt weltweit als beispielhaft, die Unesco erklärte das in eine Gedenkstätte verwandelte frühere Folterzentrum der Marine vor Kurzem zum Weltkulturerbe. 1.189 Folterer und Mörder wurden bisher verurteilt. Die Bedeutung der Menschenrechte und die Verurteilung des Staatsterrorismus sind im politischen Establishment weitgehend unumstritten. "Nie wieder!" wurde zum geflügelten Wort.

Armee keine Rolle in der Politik

In Argentinien spielt die Armee keine Rolle mehr in der Politik – anders als etwa in Brasilien. Dort verteidigte der rechtsextreme Staatschef Jair Bolsonaro (2019-2022) ganz explizit Folter und Mord in der Militärdiktatur. Ähnliche Stimmen waren kürzlich zum 50. Jahrestag des Putsches in Chile zu vernehmen.

Dieser Kulturkampf hat nun auch Argentinien erreicht. Javier Milei gibt sich gerne als Tabubrecher. Er hat die Wortwahl übernommen, mit der Mitglieder der Militärjunta damals ihren Terrorfeldzug gegen Studierende, Menschenrechtlerinnen, Gewerkschafter und andere Oppositionelle rechtfertigten. "Es sind nicht 30.000 Menschen verschwunden, sondern 8.753", behauptete er zudem.

Mord und Folter 

Anders als von ihm suggeriert, gibt es keine genauen Zahlen. Die 30.000 Verschwundenen sind eine symbolische Zahl, die von Menschenrechtsgruppen und auch von der Regierung hochgehalten wird. Mitte 1978 waren Militärs bereits von 22.000 Ermordeten ausgegangen. Vor allem in abgelegenen ländlichen Gegenden ist die Datenlage prekär, im ganzen Land gab es hunderte Mord- und Folterzentren.

Milei folgt der Linie von Victoria Villarruel, seiner Kandidatin für die Vizepräsidentschaft. Sie stammt aus einer Familie von Militärs und redet bereits seit vielen Jahren den Staatsterrorismus klein. Vor einigen Wochen organisierte sie in Stadtparlament von Buenos Aires eine Gedenkveranstaltung für die Opfer der linksgerichteten Guerillagruppen in den 70er Jahren. Über 1.000 Menschen wurden von ihnen ermordet.

Arbeit von Aktivisten umsonst? 

Die Argumentation, die die Gewalt der Staatsmacht und jene bewaffneter Gruppen gleichsetzt, ist nicht neu. Menschenrechtler befürchten, als Staatschef könnte Milei die verurteilten Militärs begnadigen und die jahrzehntelange Kleinarbeit von Aktivisten, Anwälten und Richtern zunichte machen.

Auch Präsident Alberto Fernández meldete sich zu Wort. "Es ist unhaltbar, dass jemand immer noch die Diktatur des Völkermords negiert und rechtfertigt, die gefoltert, gemordet und Babys geraubt hat, denen sie die Identität veränderte, Menschen verschwinden ließ und Zehntausende Argentinierinnen und Argentinier zum Exil verdammt hat", schrieb der Peronist im Internetdienst X, vormals Twitter.

Quelle:
epd