Armutsforscher-Paar sieht Kinderarmut auf Rekordstand

"Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm sind"

Angesichts der steigenden Preise für Energie und Lebensmittel warnen die Soziologin Carolin Butterwegge und der Politikwissenschaftler sowie Armutsforscher Christoph Butterwegge vor einer dramatischen Zunahme von Kinderarmut.

Kinderarmut lässt sich nur mit den Eltern zusammen lösen / © Stephan Kern (DR)
Kinderarmut lässt sich nur mit den Eltern zusammen lösen / © Stephan Kern ( DR )

Evangelischen Pressedienst (epd): Wie viele Kinder wachsen in Deutschland derzeit in armen Verhältnissen auf?

Armutsforscher Christoph Butterwegge und Soziologin Carolin Butterwegge / © Guido Schiefer (epd)
Armutsforscher Christoph Butterwegge und Soziologin Carolin Butterwegge / © Guido Schiefer ( epd )

Christoph Butterwegge (Politikwissenschaftler): Armut und soziale Ungleichheit sind für Kinder statistisch am ehesten über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse ihrer Familie erfassbar. Während bei den Vermögen aussagekräftige Daten bisher fehlen, legt man bei den Einkommen eine EU-Konvention zugrunde, nach der als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Das betrifft in Deutschland mittlerweile 20,8 Prozent der Kinder - rund 2,9 Millionen Menschen unter 18 Jahren.

Kinderarmut in Deutschland

Die Zahl der armutsgefährdeten Kinder ist in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren von 1,79 auf 1,85 Millionen im vergangenen Jahr gestiegen. 2005 waren es noch 1,51 Millionen. Dies geht aus Daten des Europäischen Statistikamts Eurostat hervor.

Als von Armut bedroht gelten Haushalte mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens. Der Anteil der Unter-16-Jährigen in solchen Haushalten stieg von 11,6 Prozent im Jahr 2005 über 14,7 Prozent im Jahr 2008 auf 17,2 Prozent 2010. Dann sank der Anteil mit Schwankungen auf 15,1 Prozent 2017.

Kinderarmut / © Christian Charisius (dpa)
Kinderarmut / © Christian Charisius ( dpa )

epd: Sind die Zahlen in den vergangenen Jahren gestiegen?

Christoph Butterwegge: Ja, seit Hartz IV am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, steigen sie deutlich. Dass die Kinderarmut in einem reichen Land wie der Bundesrepublik jahrzehntelang über dem allgemeinen Bevölkerungsdurchschnitt liegt und immer neue Höchststände verzeichnet, muss erschrecken. Durch die Pandemie hat sie einen weiteren Schub erhalten und wird aufgrund der Energiepreisexplosion und der Inflation vermutlich noch steigen.

Carolin Butterwegge (Soziologin): Zu beachten ist, dass die aktuellsten Daten zur Kinderarmut in Deutschland aus dem Jahr 2021 stammen. Wie sich die Situation seitdem verschärft hat und in den nächsten Monaten voraussichtlich weiter verschärfen wird, steht auf einem ganz anderen Blatt. Schon zu Beginn der inflationären Entwicklung, die wir gegenwärtig erleben, nahm der Langzeitskandal Kinderarmut dramatischere Formen an. Die momentanen Preissteigerungen bei den Lebensmitteln und der Haushaltsenergie dürften dazu führen, dass sich die Lage auch für bislang nicht oder kaum betroffene Familien aus der unteren Mittelschicht zuspitzt. Das ist ein Trend, über den viel zu wenig geredet und gegen den kaum etwas unternommen wird.

epd: Wie kam es zu dem enormen Anstieg?

Christoph Butterwegge: Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm sind. Fragt man, warum Eltern arm sind, fallen drei Ursachenbündel ins Auge. Erstens: Bedingt durch die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Liberalisierung der Leiharbeit und die Schaffung von prekären Beschäftigungsverhältnissen wie Mini- und Midijobs arbeiten zwischen 20 und 25 Prozent aller Beschäftigten zu einem Niedriglohn. Kinder von Paketzustellern, Getränkelieferanten und Fahrradkurieren haben ein sehr hohes Armutsrisiko. Wenn das Einkommen selbst bei Vollzeiterwerbstätigkeit nicht ausreicht, um eine Familie zu ernähren, wächst die Zahl der armen Kinder.

Zweitens haben Reformen wie die Hartz-Gesetze die soziale Sicherheit der Familien untergraben. Mit der Arbeitslosenhilfe wurde eine für Millionen Menschen existenziell wichtige Sozialleistung, die den Lebensstandard von Langzeiterwerbslosen sicherte, abgeschafft und durch eine reine Fürsorgeleistung ersetzt: das im Volksmund als "Hartz IV" bezeichnete Arbeitslosengeld II. Das für 2023 angekündigte Bürgergeld ist zwar eine Verbesserung, die Arbeitslosenhilfe oder eine vergleichbare Regelung wird aber nicht wieder eingeführt.

Der dritte Grund liegt in einer unsozialen Steuerpolitik. Während die Vermögenssteuer nicht mehr erhoben wird, obwohl sie noch im Grundgesetz steht, und der Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer von 53 Prozent unter Helmut Kohl auf 42 Prozent gesenkt wurde, beträgt die Mehrwertsteuer heute 19 statt 16 Prozent, was Arme hart getroffen hat. Denn sie müssen diese zusätzliche Steuer im Laden genauso bezahlen wie ein Millionär.

epd: Helfen die derzeitigen Entlastungspakete der Bundesregierung?

Carolin Butterwegge: Teilweise verschärfen sie die soziale Ungleichheit sogar noch, weil die Bezieher höherer Einkommen stärker entlastet werden als die Bezieher niedriger Einkommen. Spitzenverdiener sparen beispielsweise durch das Inflationsausgleichsgesetz als Teil des Entlastungspakets III über 500 Euro im Jahr, wohingegen Transferleistungsbezieher, die keine Steuern zahlen, gar nicht und Geringverdienende, die wenig Steuern zahlen, nur minimal entlastet werden. Eine Geringverdiener-Familie aus der unteren Mittelschicht gehört nicht zuletzt deshalb zu den Hauptbetroffenen der Energiepreiskrise und der Inflation.

epd: Inwieweit beeinflussen die aktuellen Krisenphänomene - steigende Energiepreise und Inflation - schon jetzt die Armutsstatistik?

Christoph Butterwegge: Obwohl die Auswirkungen der Krise auf viele Haushalte massiv sind, schlägt sich das nicht unbedingt in den Zahlen nieder. Für die Statistiker ist das Einkommen maßgeblich, an dem sich ja zunächst nichts ändert. Was sich ändert, sind die Ausgaben. So entsteht, was ich eine verborgene Armut nenne. Sie drückt sich beispielsweise darin aus, dass Familien, die bisher keine Schwierigkeiten hatten, einmal im Jahr in Urlaub zu fahren, darauf verzichten oder beim Essen sparen müssen, weil sie ihre Gasrechnung auf das Drei- oder Vierfache steigt. Sie schaffen es zwar weiterhin, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, müssen sich dafür aber oft auf Kosten der Lebensqualität einschränken. Diese neue Form der Armut findet sich möglicherweise bald selbst in der gesellschaftlichen Mitte.

epd: Inwiefern wirken sich die Krisen wie die Corona-Pandemie und die derzeitigen Preissteigerungen also auf die Generation aus, die gerade aufwächst?

Carolin Butterwegge: Es gibt schon jetzt viele Kinder aus einkommensarmen Familien, die wesentlich schlechtere Chancen auf eine gute Bildung und einen Berufsabschluss haben, weil es dem Schulsystem nicht gelingt, ihre Nachteile auszugleichen. Schon durch die Pandemie hat sich die Schere bei den Bildungschancen weiter geöffnet. Wenn der wachsenden Ungleichheit nicht schon im Kindesalter entgegengesteuert wird, wird sich das auch im weiteren Lebensverlauf der Betroffenen negativ auswirken.

Christoph Butterwegge: Zu hoffen bleibt, dass Inflation, Energiepreiskrise und steigende Lebensmittelpreise bei den politisch Verantwortlichen ein größeres Problembewusstsein entstehen lassen. Die Entscheidungsträger müssen erkennen, dass Kinderarmut als Langzeitskandal endlich angepackt werden muss.

epd: Was sind Ihre Forderungen?

Christoph Butterwegge: Neben der Familienförderung durch einen weiter steigenden Mindestlohn sowie höhere Transferleistungen und Regelbedarfe braucht es auch eine bessere soziale Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur. Der Staat muss dafür sorgen, dass es eine gute Ganztagsbetreuung mit mehr Personal, nicht nur Erzieherinnen und Lehrern, sondern auch mit Sozialarbeitern und Schulpsychologinnen, sowie mehr Jugendfreizeiteinrichtungen gibt.

Carolin Butterwegge: Dabei muss es sich um qualitativ gute und gebührenfreie Angebote handeln, die Familien nicht noch weiter in finanzielle Notlagen bringen. Das Kernproblem ist, dass viele Angebote für Kinder aus einkommensarmen Familien einfach nicht zugänglich sind, weil den Eltern das Geld fehlt. Auch im Bildungssystem fallen immer noch erhebliche Gebühren an. Hinzu kommen etwa die Kosten fürs Mittagessen, die im Moment auch massiv in die Höhe schnellen.

epd: Wie ließen sich diese Pläne finanzieren?

Christoph Butterwegge: Wenn die Steuern für Wohlhabende und Reiche noch so hoch wie zu Helmut Kohls Regierungszeiten wären, hätte der Staat pro Jahr 100 Milliarden Euro mehr, die er zur Bekämpfung von Kinderarmut einsetzen könnte.

Das Gespräch führte Charlotte Morgenthal.

Quelle:
epd