DOMRADIO.DE: Sie waren ja vor einigen Wochen selbst noch in Frankreich, waren auch in Paris an der Kathedrale, konnten sich selbst ein Bild davon machen. Was ist Ihr Eindruck? Wie sieht es jetzt aus?
Ansgar Wallenhorst (Kantor St. Peter und Paul Ratingen): Ich bin zweimal im Jahr dort gewesen. Einmal im Oktober, wo man noch merkte, es ist jetzt erst mal die Situation, dass die ganze Baustelle abgeriegelt ist. Der ganze Bereich um die Kathedrale ist quasi eine einzige Großbaustelle. Im Oktober sah man schon den Umfang der Arbeiten, die vorgenommen worden sind, im Bereich der Statik. Als ich jetzt im März da war, hatte der ganz sensible Teil schon begonnen. Man versucht jetzt dieses völlig verschmolzene Baugerüst, was den Vierungsturm zur Restaurierung führen sollte und dann völlig zerstört ist, aber noch abgebaut werden muss, dass das jetzt langsam peu a peu abgetragen wird.
DOMRADIO.DE: Der Chefarchitekt von Notre Dame, Herr Villeneuve, hat ja die Aufgabe, gerade unter anderem ein Gutachten zu erstellen, das im Juni dem Staatspräsidenten vorgelegt wird. Emmanuel Macron hat gesagt: Fünf Jahre solle es dauern, bis die Kathedrale wieder steht. Nachdem, was Sie wissen und was Sie gesehen haben, ist es realistisch, dass man nach fünf Jahren wieder rein kann in die Kirche?
Wallenhorst: Ich bin kein Architekt und kann das auch nicht prophetisch sagen. Ich bin natürlich in Kontakt mit meinen Organistenkollegen, mit Philippe Lefebvre, Olivier Latry und Vincent Dubois. Es ist schon eine sehr große Hoffnung und es ist vielleicht auch berechtigt, dass man in fünf Jahren – in welcher Form auch immer – wieder in die Kathedrale herein kann. Das hat auch jetzt der Koordinator der Arbeiten, General Georgelin, wieder betont. Aber ich kann mir das eher so vorstellen, dass es im Prinzip mit einer Zwischenarbeitsdecke sozusagen freigegeben ist und man so auch wieder Gottesdienste in Notre-Dame feiern kann. Aber ich glaube, dass sich die gesamten Restaurierungsarbeiten unter Umständen 20 bis 30 Jahre hinziehen werden.
DOMRADIO.DE: Was sagen denn Ihre Kollegen? Was hören Sie aus der Kathedrale und von dem, wie die Menschen damit umgehen?
Wallenhorst: Die Kollegen sind natürlich gut informiert, sie versuchen immer wieder diplomatisch zwischen den Positionen Kirche und Staat – was in Frankreich ein wichtiges Thema ist – zu vermitteln. Sie sind selber aber auch nicht oft auf der Baustelle. Es hat also im Prinzip nur direkt nach dem Brand eine Begehung mit Orgelbauer an der Orgel gegeben. Mittlerweile ist der Stand der, dass man eine Halle gefunden hat, etwas außerhalb von Paris. Dort soll die Orgel insgesamt ausgelagert werden. Das kann aber erst geschehen, wenn das Gerüst raus ist.
Man muss sich vorstellen, es muss ja, um die Orgel zu demontieren, auch erst einmal der gesamte Prospekt der Orgel abgebaut werden. Das wiederum setzt voraus, dass man mit Lastenkränen überhaupt dran kann. Im Moment ist das nicht möglich, denn ins Hauptschiff darf noch niemand, weil die Statik unklar ist und man auch keinen Ankerpunkt hat, um irgendwelche Lastenaufzüge anzusetzen oder irgendwas zu demontieren. Es ist alles fragil. Es kann also erst gemacht werden, wenn die Substanz so gesichert ist, dass die Orgel die Kathedrale heil verlassen kann.
DOMRADIO.DE: Gibt es einen neuen Stand, wie es um die große Hauptorgel von Cavaillé-Coll bestellt ist?
Wallenhorst: Eigentlich nicht wesentlich. Man kann natürlich auch nicht viel sagen, weil die Orgel seitdem auch nie einen Testlauf hatte, was wiederum ganz gut ist. Man muss sich eben vorstellen, die Orgel ist danach nie wieder gespielt worden. Wenn wir das Thema Blei-Kontaminierung ins Auge fassen, haben wir es mit einer Bleibelastung von Oberflächen, also an den Pfeifen, an den Windladen und am Gehäuse, zu tun. Aber sicherlich nicht in der Form, dass durch die angesaugte Raumluft jetzt Blei in den Windladen ist. Das ist ja auch schon mal ein Vorteil.
Das heißt, wenn die Orgel komplett demontiert ist, muss man sehen, was sind die Ergebnisse der Recherchen in den Laboratorien der Denkmalpflege und der Restaurierung? Und mit welchen Mitteln kann man dann im Orgelbau agieren? Das ist ein schwieriges Thema, wir haben es im Orgelbau mit Zinn-Blei-Legierungen zu tun. Die Pfeifen müssen so behandelt werden, dass diese Legierungen keinen Schaden nehmen. Ebenso gibt es verschiedene Holzarten, die Oberflächenbehandlung der Windladen ist etwas anderes mit härteren Hölzern, als die großen 32-Fuß-Holzpfeifen aus Fichte oder Tanne. Für jedes unterschiedliche Material – so stelle ich mir das zumindest vor – muss eine unterschiedliche Herangehensweise zur Dekontaminierung von Blei gefunden werden.
DOMRADIO.DE: Es wurde vor einem Jahr von einem Wunder gesprochen, dass diese Orgel überhaupt noch so aussieht, wie sie es jetzt tut und nicht beispielsweise durch Löschwasser total zerstört wurde. Kann man das noch so aufrecht erhalten: ist es immer noch ein Wunder?
Wallenhorst: Das kann man durchaus. Das Wunder ist, – das sagen auch viele, gerade jetzt habe ich es auch in Dokumentationen gehört – dass die Mitarbeiter, die mit der Schadensaufnahme befasst sind, immer wieder sagen: Irgendetwas Besonderes hält Notre-Dame zusammen, sonst wäre das gar nicht mehr so. Zu diesen Wundern gehört, dass die Orgel weitgehend unversehrt ist, dass die Marienstatue im Vierungsbereich nicht zerstört wurde, dass die großen Fensterrosen erhalten sind und nur ganz wenig von den Kunstschätzen betroffen ist. Das ist ein ganz großes Wunder. Es ist ja wirklich nur der zentrale Vierungsbereich mit dem relativ neuen Zelebrationsaltar betroffen. Am Chorgestühl sind leichte Wasser- und natürlich auch Blei- und Rußschäden. Ansonsten ist es ein Wunder, dass das Interierur relativ glimpflich davon gekommen ist.
DOMRADIO.DE: Im Chorgestühl steht eine kleine Chororgel, von der man aber nicht so viel Gutes gehört hat. Könnte sie zerstört sein?
Wallenhorst: Man nimmt an, dass Löschwasser reingelaufen ist, aber ganz zerstört ist sie wahrscheinlich auch nicht. Wahrscheinlich kann man auch das Pfeifenmaterial retten, den technischen Teil muss man sicher neu konstruieren.
DOMRADIO.DE: Was würde es für Frankreich bedeuten, wenn man die große Orgel retten und wieder aufbauen kann?
Wallenhorst: Ich denke, nicht nur für Frankreich. Das ist wirklich ein Instrument, was eine große Instrumentenbau-Geschichte hat – von den ersten Orgeln, die in der Kathedrale standen um 1403, dann aber auch die Neuerung des 20. und 21. Jahrhunderts. All das verkörpert ja Notre-Dame. Die Orgel ist wirklich eines der weltbekanntesten Instrumente, das ist für alle ein ganz großes Glück, dass sie erhalten ist. Die Kollegen erzählen immer wieder, dass es eine unheimliche Solidarität – nicht nur jetzt in der heißen Phase im letzten Jahr – in allen Ländern mit Benefizkonzerten und Aktionen gibt. Alle spielen wirklich rund um den Globus weiter für Notre-Dame, sodass auch die Restaurierung der Orgel zum Abschluss geführt werden kann.
DOMRADIO.DE: Man kann ja bei so einer Restaurierung, zum Beispiel beim Dachstuhl, auch an neue Materialien und neue Techniken denken. Auch damit erhält man das Kultur- und Bauerbe im gewissen Sinne trotzdem noch. Ist es auch denkbar, dass sich an der Orgel etwas ändert?
Wallenhorst: Das glaube ich jetzt eher nicht. Wir haben ja im Bereich der Orgel zum einen die große Restaurierung von 1992 gehabt. Die Idee der "fluiden Orgel" ist zu der Zeit in Notre-Dame geboren und war auch ein bisschen Vorbild hier in Ratingen. Das heißt, man hat IT-Technik sozusagen on top auf die Orgel draufgesetzt. Zum großen Kathedral-Jubiläum hat die letzte Restaurierung stattgefunden, von 2012 bis 2014. Man hat Cavaillé-Coll-Substanz erhalten und gestärkt. Die Orgel ist eigentlich jetzt in einem Top-Zustand, auch mit einer neuen, sehr sicheren elektronischen Orgelsteuerungsanlage. Es muss sicherlich – davon gehe ich aus – durch die Kontaminierung der Spieltisch neu gebaut werden. Ich kann mir vorstellen, dass dieses elektronisch sensible Bauteil neu gefertigt werden muss, weil darin sehr viel Hightech steckt. Das setzt natürlich voraus, dass alles blitzsauber und in einem sehr guten Zustand ist.
Das Interview führte Matthias Friebe.