Es ist egal, mit welchen Briten man dieser Tage spricht: jenen, die die Brexit-Entscheidung als eine Tragödie oder Farce bezeichnen, jenen, die den EU-Ausstieg zwar befürworten, aber Premierministerin Theresa Mays ausgehandeltes Abkommen ablehnen, oder mit Briten, die es einfach nur hinter sich bringen wollen. Angesichts der vertrackten Situation hört man immer wieder die Redewendung "What a shambles", was für ein Scherbenhaufen, über den das Parlament am Dienstag abstimmen soll.
Laut jüngsten Umfragen waren im Dezember 2018 nur noch 24 Prozent der Bevölkerung mit der Regierungsarbeit zufrieden - ein kläglicher Rest der 46 Prozent Zustimmung, derer sich Theresa May im Frühjahr 2017 erfreuen konnte. Es ist unwahrscheinlich, dass sie am Dienstag im britischen Unterhaus mit ihrem EU-Austrittsvertrag durchkommt. Was dann? Folgt eine Überarbeitung des Austrittsvertrages und eine weitere Abstimmung, ein ungeregelter Austritt, ein zweites Referendum oder eine Verschiebung des Austrittsdatums? Eine Lösung auch der komplexen Situation an der nordirisch-irischen Grenze und breite Zustimmung in der Gesellschaft erwartet eigentlich niemand. Und mit jedem weiteren Tag verhärten sich die Fronten.
Dem eigenen Land fremd geworden
Die Emotionen kochen gerade im Regierungsviertel immer wieder hoch. Am Parlament soll mehr Polizei patrouillieren, um Brexit-Befürworter und -Gegner auseinanderzuhalten und Parlamentarier zu schützen. Was dort geschieht, ist nicht die feine englische Art. So wurde die konservative Ex-Ministerin Anna Soubry vergangene Woche vor laufenden Kameras von Protestlern als "Nazi" und "Lügnerin" bezeichnet, später bedrängt und als "Abschaum" beschimpft. Die pro-europäische Parlamentarierin setzt sich für ein zweites Brexit-Referendum ein.
Vielen Briten mit europäischen Wurzeln ist ihr Land fremd geworden. Fremdenfeindliche Übergriffe vor allem gegen Muslime aber auch Angriffe auf Schwule haben drastisch zugenommen. Irland und Deutschland verzeichnen einen Rekord an Anträgen von Briten auf doppelte Staatsbürgerschaften. Es sind Nachfahren von Iren und Verfolgten des Nationalsozialismus, die die Brücke nach Europa nicht einreißen lassen wollen.
Zwei Millionen Menschen hungern
Die wirklich Leidtragenden sind jedoch die Ärmsten. Auch wenn Großbritannien zu den reichsten Länden der Erde gehört, gibt es dort so viele mittellose Menschen wie selten zuvor. Vergangene Woche wurde angesichts neuer Statistiken zur Unterernährung im Land gar die Forderung nach einem Hungerminister laut. Zwei Millionen Menschen und 19 Prozent der Kinder litten buchstäblich Hunger, heißt es.
Doch der Brexit bindet wertvolle Energien, die bei der Lösung solcher Probleme fehlen dürften. So erhielten gerade 4.000 Beamte aus den Bereichen Bildung, Justiz und Soziales die Aufforderung, ihre tägliche Arbeit auf Eis zu legen, um Vorbereitungen für einen möglichen No-Deal-Brexit zu unterstützen. Dieser würde sozial benachteiligte Menschen am härtesten Treffen.
Britisches Volk gespalten: Keine überzeugende Mehrheit
Davor warnte auch der Primas der Anglikaner, Justin Welby, vergangene Woche im britischen Oberhaus. Diese Menschen haben nicht das Geld oder den Platz, ihre Vorräte an Lebensmitteln und Medikamenten aufzustocken. Kommt es zu einer akuten Wirtschaftskrise und Entlassungswelle, fallen sie nicht auf ein weiches Sparpolster. Ein ungeregelter Austritt wäre in den Augen Welbys daher nicht nur ein Versagen des Parlaments, sondern auch "ein moralischer Fehlschlag". Es gehe um mehr als den Brexit und die "alles verzehrenden Ideologien" der Politiker in Whitehall, mahnte der Erzbischof von Canterbury. Es gehe um die Menschen, "ihr Wohlergehen und ihre Gemeinden".
Aber was will das Land? Votierten bei dem Referendum 52 Prozent der Wähler für den Ausstieg und 48 Prozent dagegen, wären laut einer Umfrage der vergangene Woche nun 53 Prozent für den Verbleib und 47 dagegen - kein komfortabler Vorsprung für das Remain-Lager also. Die vergangenen Wochen hitziger Debatten haben gezeigt, dass es für keinen Weg eine überzeugende Mehrheit gibt. Viele Briten haben inzwischen auch gar keine klare Meinung mehr, sehen den Wald vor Bäumen nicht. Es erscheint fraglich, ob das Land am Dienstag aus diesem Dickicht herausfindet.