Sechs Soldaten patrouillieren auf dem leer gefegten Platz vor der Versöhnungskirche. Jeder trägt ein Sturmgewehr vor der Brust, den Lauf nach unten gerichtet, der Zeigefinger liegt ausgestreckt neben dem Sicherheitshebel, nahe am Abzug. Nach den Terroranschlägen in den vergangenen Monaten und Jahren wie etwa die Ermordung eines Priesters in der Normandie 2016 gilt der Ausnahmezustand im gesamten französischen Staatsgebiet. Soldaten patrouillieren vor Kirchen, so auch in Taizé. Doch das stört die tausenden Jugendliche in der Kirche wenig: Sie suchen Ruhe und den Weg zu Gott. So wie ich.
Anziehungspunkt für Jugendliche
100.000 junge Christen pilgern jedes Jahr in das kleine französische Dorf zur ökumenischen Bruderschaft von Taizé. Sie beten mit den Brüdern, treffen sich zu Bibelkreisen, putzen, spülen und genießen es, ein Teil einer großen Gemeinschaft zu sein.
Es ist mein erster Besuch in Taizé. Während viele die Gemeinschaft als Tankstelle für den Glauben und den inneren Frieden oder auch zur Selbstfindung nutzen, habe ich mich dafür entschieden, sieben Tage zu verleben, ohne ein Wort zu sprechen. Dafür können Frauen und Männer sich jeweils in abgelegene Häuser zurückziehen.
In der Kirche wird gesungen und gebetet
Ich sitze im Schneidersitz auf dem Teppichboden der Kirche, die eher wie eine große Turnhalle anmutet. Um mich herum sitzen Jugendliche und Erwachsene aus den Niederlanden, Spanien, Russland, China oder anderen entfernten Ländern. Zu meiner Rechten knien die Mönche der Communauté in ihren weißen Kutten. Uns trennen nur ein paar trockene Bonsaizweige, die ordentlich in ihrer Halterung stecken. Meine Augen sind geschlossen. Alle singen: "Ubi caritas et amor, Deus ibi est.– Wo Güte ist und Liebe, da ist Gott." Die Zeile ist ganz einfach, und wir singen sie zehn, fünfzehnmal. Durch die Wiederholungen versinke ich in tiefe innere Ruhe und lasse mich von meinen Gedanken davontragen. Die Taizé-Gemeinde lebt diese einfachen, beruhigenden, friedlichen Botschaften.
Es geht ins Schweigehaus
Es ist eine besonders ruhige Woche in Taizé, 200 Besucher sind vergleichsweise wenig: In den Sommermonaten kommen oft mindestens 5.000 Jugendliche. Das Haus für Unter-30-Jährige, die schweigen wollen, liegt im Nachbarort von Taizé, im 166-Seelendorf Ameugny. Die Brüder haben dort ein riesiges Haus mit noch größerem Garten bereitgestellt. Mehr als 25 Mädchen finden dort einen Schlafplatz. In dieser Woche sind wir nur zu fünft.
SONNTAG
Jede bewohnt ein Doppelzimmer alleine, ein seltener Luxus in Taizé. Ich richte mich am Sonntag häuslich mit Schlafsack und einem Bücherstapel ein. Meine Vorgängerin begrüßt mich mit einem kleinen Zettel und Blümchen aus dem Garten: "Hab eine schöne Woche in Stille." Uns betreut eine junge Französin, Claire, die schon seit einigen Monaten in Taizé arbeitet und lebt. Sie betraut uns mit alltäglichen Aufgaben: Gemeinsam mit einer Mitschweigerin soll ich das Erdgeschoss sauber halten. Die Anleitung hängt an einer Pinnwand im Aufenthaltsraum. Jeder geht seiner Wege. Ich lebe mich langsam ein und schlafe viel.
MONTAG
Auch wenn der Tagesablauf nur drei Gebete am Morgen, Mittag und am Abend in der Kirche vorsieht und eine Bibelstunde am Tag, bin ich nicht besonders motiviert. Ich bewege mich fast nur zwischen Küche, Wasserkocher und Bett, so müde bin ich. Das 8-Uhr-Gebet schwänze ich an den ersten beiden Tagen. Mittags und abends schleppe ich mich durch das kalte und nasse Taizé zum Gebet in der Kirche. Es fällt mir schwer.
Die Ruhe führt zu vielen Gedanken, für die ich im Alltag wenig Platz habe. Versagensängste, Schwierigkeiten und nicht geklärte Konflikte in meinem Leben kochen hoch. Dazu kommt der endlose Regen, der meine Stimmung trübt. Schwester Marielle besucht uns jeden Tag: Punkt 10 Uhr kommt sie durch die Gartentür in die Küche. Die zierliche Frau trägt Alltagskleidung – Fleece-Jacke und Jeans. Ihre Berufung erkenne ich nur an ihrem Kreuzstecker am Pullover. Sie setzt sich zu uns an den Küchentisch, erzählt mit voller Hingabe über die Liebe Gottes, zeigt uns Bibelstellen. Wir lauschen ihr still und hängen unseren eigenen Gedanken nach. Die Textstellen können wir für unsere Gebete tagsüber nutzen: Dafür sollen wir uns die Szenen vorstellen und uns dabei Gott nähern.
DIENSTAG
Die Schwester fragt uns am großen Esstisch nach einem Wort, das den vorherigen Tag beschreiben soll: Wir sitzen im Kreis und überlegen. "Regnerisch", sagt ein Mädchen. Ein anderes: "Friedvoll." "Warm." Eine Französin sagt, ihr Tag war "schwieriger". Es ist das einzige Wort, das wir in dieser Woche laut aussprechen. "Es ist nicht immer leicht", erklärt die Schwester und streicht dabei behutsam die Bibel, die vor ihr liegt. Und das sei auch nicht schlimm. Wir machten nichts falsch. Auch wenn es mit dem Beten nicht klappe und wir keine Antwort vernehmen können. Helfen und Energie geben, könne die Vorstellung, dass Gott uns bedingungslos liebt. "Gott liebt uns, das ist alles!", sagt sie mit einem zufriedenen Lächeln und zuckt mit den Schultern. Sie schlägt die Bibel auf und liest aus Jesaja 49 vor: "Zion aber spricht: Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat mein vergessen. Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselben vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen." Mit den Worten schickt sie uns in den Tag: "Ich möchte Euch heute einladen, auf Euer Leben zu schauen mit dem Blick Gottes". Sie geht in den Regen hinaus.
Die Nachmittagszeit zwischen Mittagessen und Abendessen zieht sich dahin, es gibt nichts zu tun, wir müssen und sollen nichts tun. Ab und zu begegne ich auf meinen Wanderungen durch das Haus den anderen, aber mehr als ein Lächeln tauschen wir nicht. Ich male, zum ersten Mal seit der Schule. Auf meinem Papier sind jetzt die Blumen zu sehen, die auf dem Tisch stehen, der Garten, der Regen an der Fensterscheibe.
MITTWOCH
Meine Stimmung hellt sich auf, obwohl es immer noch regnet. Trotz des Wetters stehe ich früh auf, mache mich für das 8-Uhr-Gebet in der Kirche in Taizé fertig und stapfe die Viertelstunde freiwillig durch Matsch und Pfützen. Ich genieße die Gesänge und Gemeinschaft in der Kirche. Die ersten Lieder kann ich mittlerweile auswendig. Statt für die Jeans entscheide ich mich für die bequeme Fleece-Hose. In der Kirche schlüpfe ich aus den Schuhen. Die anderen machen das auch so und es ist bequemer. Es wird heimelig im Gotteshaus. Hier sind wir irgendwie alle gleich, egal woher wir kommen. Aussehen, Ausstattung, sozialer Status oder Alter werden völlig egal.
Dreimal am Tag laufe ich inzwischen freiwillig in die Gottesdienste, einfach weil ich merke, dass es mir gut tut. Ich nehme die Bibel mit. Ich lese in den Minuten des stillen Gebets mit den Mönchen in den Bibelstellen, die die Schwester uns mit auf den Weg gegeben hat. Ich lerne die Bibel neu kennen, auch wenn ich die Geschichten grob kenne.
DONNERSTAG
Der Himmel reißt auf. Schwester Dominique zeigt uns, wo wir im Garten helfen können. Wir rupfen still Unkraut und schneiden die Rosen. "Gottesnähe geht auch in der Natur", erklärt die Schwester. Trotzdem sollen wir nur das machen, was uns gut tut, nichts ist erzwungen, nichts ist vorgeschrieben. Ich vermisse keinen Fernseher, kein Facebook, kein Whatsapp, ich denke nicht daran, was ich kochen möchte oder was ich abends unternehmen kann. Wie die anderen beschäftige ich mich mit mir selbst und mit Gott.
SAMSTAG
Es ist fast Abschiedszeit. Ich habe mich inzwischen an den Rhythmus von Morgengebet, Frühstück, Bibelstunde, Mittagsgebet, Abendessen und Abendgebet gewöhnt. Lange Spaziergänge in der Natur verkürzen den Nachmittag. Mit etwas Wehmut spaziere ich still neben einer Mitschweigerin zum Samstagabendgebet, ein Höhepunkt für viele Taizé- Besucher. Alle bekommen eine Kerze. Während des Gesangs gibt einer der Mönche das erste Licht weiter an Kinder, die es weitertragen. Der Kerzenschein wandert von einem Besucher zum nächsten und erhellt schließlich die ganze Kirche. So warm und lichterfüllt war der Kirchenraum die ganze Woche nicht. Ich muss an die Worte der Schwester aus der letzten Bibelstunde denken, als sie aus dem Lukasevangelium zitiert hat:
"Fürchtet Euch nicht!" In diesem Lichtermeer fühle ich mich sicher und geborgen. Dieses Gefühl möchte ich gerne konservieren und in meinen Alltag tragen. Es begleitet mich, als ich an den Soldaten vorbeigehe.