Über das Miteinander in Corona-Zeiten

Auf Nähe getrimmt - zum Abstand verdonnert

Nähe ist eine Kulturtechnik. Unsere Umgangsformen werden sich nach der Krise verändern – und auch gegenwärtig wird unser erlerntes Verhalten durch die Corona-Pandemie auf die Probe gestellt.

Autor/in:
Andreas Öhler
Krankenhausseelsorger mit Patient / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Krankenhausseelsorger mit Patient / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )

Würden wir in diesen Tagen alle Begriffe durchbuchstabieren, die noch vor drei Monaten zum festen Bestandteil unserer Alltagssprache gehörten und jetzt gerade nicht mehr gebraucht werden, würde das Alphabet aus den Nähten platzen. Von Abtanzen bis Zeltplatz - wie fremd hallen solche Wörter noch nach. Falls die Pandemie noch lange unser Bewegungsverhalten bestimmt, werden wir Mühe haben, unseren Kindern zu erklären, was es mit "Bonusmeilen sammeln" und "Bussi-Bussi-Gesellschaft" auf sich hatte.

Sehen Sie in einem alten Western Banditen, die vermummt einen mit Gold beladenen Zug überfallen, werden Sie fragen: "Gab es damals schon Corona?" Viele von uns bis dato für selbstverständlich gehaltene Zeichen, über die sich zwischenmenschliche Begegnungen vermittelten, erfahren gerade eine gewaltige Umcodierung.

Erlerntes Verhalten vs. neue Situation

Wir müssen den Impuls unterdrücken, sorglos auf jemanden zuzugehen, ihm die Hand zu schütteln oder ihn gar zu umarmen. Dabei ist das doch eine anthropologische Grundkonstante, schon seit der Steinzeit, dass die Menschen die Nähe zueinander suchen. Wir schmiegen uns aneinander, um uns seelisch und körperlich zu wärmen, und bringen das sogar unseren Haustieren bei.

Es ist noch zu früh für die Frage, ob sich unsere über Jahrhunderte praktizierten Kulturtechniken im sozialen Miteinander gravierend ändern werden. Die Corona-Pandemie ist nicht die erste weltumspannende Seuche, die, nachdem sie überwunden war, nur noch als verblassender Schrecken im kollektiven Bewusstsein virulent war. Danach ging alles wieder seinen gewohnten Gang.

Umgangsformen auch regional bestimmt

Dabei lassen sich Umgangsformen ändern: Business-Manager, die mit Geschäftspartnern aus dem asiatischen Raum zusammenkommen, müssen schnell lernen, dass körperliche Berührungen bei der Begegnung dort nicht üblich sind. Traditionen ergeben nur im Regionalen Sinn, wo die Zeichen von allen verstanden werden.

Wären wir alle Landeier im Nest, in das wir hineingeboren wurden, würden wir die Entbehrungen der Corona-Krise womöglich leichter ertragen. Aber wir sind inzwischen alle Kinder der Moderne geworden - sie wird geprägt vom Menschen in der Menge; die Großstadt ist sein Biotop.

Allgegenwärtige Geselligkeit

Moderne bedeutet die Vermassung von Kultur: Großveranstaltungen, Mega-Events in Sport, Popmusik und nicht zuletzt in der Religion haben unseren Begriff von Geselligkeit stark erweitert. In der Menge feiernd abzutauchen, mit Fremden Nähe zu suchen - das gab es in der vormodernen Zeit allenfalls auf Wallfahrten und im Karneval. Das Verschmelzen im gleichen Geist bei gleichzeitiger Realpräsenz, das kann die virtuelle Kommunikation via Bildschirm nicht ersetzen.

Suchen wir als biologische Menschen schon die Nähe zueinander, suchen wir sie als politische Subjekte erst recht. Die Artikulation eines gemeinsamen Anliegens geht nur in der Menge, deshalb ist auch die Versammlungsfreiheit ein wichtiges Grundrecht in unserer Verfassung. Beginnt eine Diktatur, kann man das daran erkennen, dass sie ihre Gegner zu vereinzeln und in die Isolation zu treiben versucht. Auf den Straßen sieht man dann in der Regel nur noch marschierende Kohorten und bestellte Jubilierer.

Und nach der Krise?

Wie soll das gehen? Fußball ohne Fankurve, Karneval ohne Umzug - wird die Atemschutzmaske das einzige sein, das noch an das Maskenfest erinnert? Selbst wenn uns das Coronavirus nicht mehr fest in seinem Würgegriff hat, weil ein Impfstoff gefunden wurde - was wir sehr lange nicht mehr wiederfinden werden ist eine sorglose Unbefangenheit im Umgang miteinander. Das unterscheidet uns vom Pestzeitalter in der Neuzeit. Weil wir längst über die Grenzen unseres eigenen Sprengels hinaussehen können.

Im Mittelalter war das, was nicht mehr sichtbar war, vergangen, überwunden. Wir aber haben die Welt im Blick, wissen, dass der Tod nur weitergezogen ist, auf den Bildschirmen verfolgen wir seinen Weg. Wir haben dadurch unsere Unschuld verloren, was unsere Verantwortlichkeit gegenüber den Nächsten angeht. Wir haben aber die Erkenntnis gewonnen, dass wir für die Welt als Ganze verantwortlich zeichnen müssen. Die Klimakrise war die erste Lektion, die zweite heißt Corona.


Einkauf mit Maske am Marktstand / © Harald Oppitz (KNA)
Einkauf mit Maske am Marktstand / © Harald Oppitz ( KNA )

Gottesdienst in der Propsteikirche in Leipzig / © Dominik Wolf (KNA)
Gottesdienst in der Propsteikirche in Leipzig / © Dominik Wolf ( KNA )

Gottesdienst in der Propsteikirche in Leipzig / © Dominik Wolf (KNA)
Gottesdienst in der Propsteikirche in Leipzig / © Dominik Wolf ( KNA )
Quelle:
KNA
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