Der Paternoster und die steile Karriere des Aufzugs

Auf und nieder immer wieder

Religionsstifter wie Christus oder Mohammed sind laut Überlieferung zum Himmel aufgefahren. Dann kamen Kabinen an einem Hanfseil. Und heute werden die Wolkenkratzer immer höher - und deren Aufzüge immer schneller.

Autor/in:
Alexander Brüggemann
Symbolbild Aufzug nehmen / © jaboo2foto (shutterstock)

"Als er das gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben." Was der Evangelist Lukas Ende des ersten Jahrhunderts noch voller Staunen in der Apostelgeschichte berichtet, vollzieht sich heute täglich ungezählte Male in Bürotürmen und Wohnhäusern der postmodernen Zivilisation.

Der Aufzug macht's möglich. Schätzungen zufolge fallen allein in Europa jeden Tag mehr als eine Milliarde Fahrten an. Als schnellster Einkabinenaufzug der Welt mit 20 Metern pro Sekunde wird seit 2016 der des Chow Tai Fook Centre geführt, einem 530 Meter hohen Wolkenkratzer im chinesischen Guangzhou.

Der längste Aufzugsschacht der Welt

Und der längste Aufzugschacht der Welt soll demnächst der im Jeddah Tower in Dschidda an der Westküste Saudi-Arabiens werden. Geplante Bauhöhe: 1.007 Meter. Die ersten Aufzüge der Geschichte waren nicht für Menschen gemacht, sondern zum Lastentransport.

Der römische Architekt Vitruv schreibt die Erfindung dem Griechen Archimedes von Syrakus zu (ca. 287-212 v. Chr.). Spätere historische Quellen erwähnen Kabinen an einem Hanfseil, angetrieben von Hand oder durch Tiere. 1743 ließ der "Sonnenkönig" Ludwig XV. für eine seiner Mätressen im Schloss von Versailles einen sogenannten Fliegenden Stuhl bauen.

Personenaufzug in Kapuzinergruft

Einen Personenaufzug ließ Königin Maria Theresia 1766 in der Wiener Kapuzinergruft einbauen. Als sie drei Wochen vor ihrem Tod im November 1780 darin stecken blieb, soll sie gesagt haben: "Das war ein Zeichen. Die Gruft will mich halt nimmer hergeben." 

Von diesen ersten royalen Episoden abgesehen, begann die weltliche Ära der Himmelfahrten erst vor knapp 170 Jahren. Der US-Amerikaner Elisha Otis (1811-1861) reagierte am schnellsten auf die Entwicklung der neuen Stahlskelettbauweise. 1854 präsentierte er der Weltöffentlichkeit im New Yorker Kristallpalast seine neuartige Fangvorrichtung für Förderkörbe.

Otis stellte sich zwischen Lasten auf eine Plattform und ließ das einzige Tragseil durchschneiden. Der Aufzug bremste sich von selbst, und der Konstrukteur konnte die aufgeregten Zuschauer mit den Worten beruhigen: "All safe, gentlemen, all safe." ("Alles in Ordnung, Herrschaften, alles in Ordnung").

Erster Sicherheitsaufzug in New York

Drei Jahre später wurde der erste "Sicherheitsaufzug" in ein New Yorker Kaufhaus eingebaut. Von da an ging's rasant aufwärts mit dem Lift. Die Häuser wurden immer höher, die Aufzüge immer leistungsfähiger. Viele Kabinen aus der Frühzeit des "Vertikaltransports" sind noch architektonische Kunstwerke, die speziell für ein Treppenhaus gebaut wurden.

Europas Haupt- und Kurstädte mit ihren Hotels aus "Belle Époque" und Jugendstil besitzen noch schöne Exemplare dieser Altertümer; nüchtern-funktional oder verschnörkelt wie ein Vogelbauer. Doch das neue Jahrhundert forderte neue Lösungen - zumindest nach Meinung des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI).

Vaterunser statt Einzelkabinen

Der teilte dem damaligen deutschen Reichskanzler, Fürst Bernhard von Bülow, 1907 mit, er möge doch für eine zügige Einführung des "Umlauf-Aufzugs" sorgen. Aufzüge mit Einzelkabinen seien "nicht mehr zeitgemäß". In der Tat galt der Paternoster (lat. für Vaterunser), wie der "Umlauf-Aufzug" im Volksmund wegen seiner gebetsmühlenartigen Wiederkehr genannt wurde, als der bessere Aufzug.

In seinen Holzkabinen konnte er mehr Menschen gleichzeitig nach oben bringen als die damals noch recht gemächlichen Einzellifte. Zudem war er zuverlässiger, weil seine gleichmäßige Bewegung den elektrischen Antrieb weniger beanspruchte.

Böll und die Bürohäuser

So trat der Paternoster seinen Siegeszug in öffentlichen Gebäuden und Bürohäusern an. Heinrich Böll hat ihm in "Doktor Murkes gesammeltes Schweigen" (1955) ein literarisches Denkmal errichtet. Eine weitere Sonderform sind die sogenannten Sabbat-Lifte.

Im "Sabbat-Modus" fahren sie automatisch und pausenlos jedes Stockwerk an; die Türen öffnen und schließen automatisch, sodass kein Schalter betätigt werden muss - denn das ist gläubigen Juden am Sabbat untersagt. Trotz seines frommen Namens: Im Paternoster waren die Unfallzahlen schon immer erheblich höher als in den Einzelkabinen.

Abspringen im richtigen Moment

Denn es sind auch akrobatische Qualitäten gefragt, um im rechten Moment den Absprung in der gewünschten Etage zu erwischen. Durch neue Sicherheitsstandards wurde der Aufsteiger von einst seit den 1960er Jahren auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

Mitte der 70er wurde der Neubau von Umlauf-Aufzügen in Westdeutschland verboten, bald darauf auch in der DDR. 1993 wollte die aufzugproduzierende Industrie den Paternostern schon endgültig den Saft abdrehen. Doch ungezählte Liebhaber-Proteste konnten das Aus abwenden.

Auch die Einführung eines "Paternoster-Führerscheins" 2011 in Deutschland war nicht von Dauer. 2015 verkehrten landesweit immer noch 250 Paternoster, mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Und bis sie nicht gestorben sind, kreisen sie auch weiter - und leisten so ihren Beitrag zur täglichen Milliarde "Himmelfahrten".

 

Quelle:
KNA