Sie ziehen sich wie rote Adern über die Landkarte Europas. In den vergangenen Jahren haben immer mehr Länder und Regionen das Netz der alten Pilgerwege nach Santiago de Compostela wiederentdeckt und für moderne Pilger begehbar gemacht.
Europa auf Pilgerschaft
"Europa ist auf der Pilgerschaft geboren und das Christentum ist seine Muttersprache" - dieser Ausspruch wird Goethe zugeschrieben.
Mehr noch als etwa die Pariser Kathedrale Notre-Dame, die nach dem Brand Mitte April immer wieder als kulturelles Symbol Europas beschrieben wurde, hat der mittelalterliche Weg zum vermeintlichen Grab des Apostels Jakobus die Europäer zusammengeführt.
Ein Magnet: Seit dem neunten Jahrhundert sind Pilger aus aller Herren Länder in den äußersten Nordwesten Spaniens gewandert. Bis nach Russland und Schweden reicht das Netz der Wege. Kunststile, Musik, Architektur und Frömmigkeitsformen verbreiteten sich darüber.
Kult um Jakobusgrab
Der Kult um das Jakobusgrab ist eng verbunden mit der Angst der spanischen Christen vor der Eroberung durch Muslime im 8. Jahrhundert. So entstand die Legende, der Apostel Jakobus habe Spanien missioniert; er wurde als Schutzheiliger angerufen. Anfang des 9. Jahrhunderts verbreitete sich die Erzählung, die Gebeine des Apostels seien auf einem Friedhof aus römischer Zeit gefunden worden.
Das Grab wurde zum Pilgerort - und zum spirituellen Zentrum für die Rückeroberung Spaniens. Jakobus wurde als Maurentöter dargestellt.
Drittwichtigster Wallfahrtsort
Santiago de Compostela entwickelte sich zum drittwichtigsten christlichen Wallfahrtsort nach Jerusalem und Rom. Seit dem 16. Jahrhundert geriet der Weg allerdings zunehmend in Vergessenheit:
Inquisition, Konfessionsstreitigkeiten und politische Konflikte behinderten das Pilgern. Im 20. Jahrhundert belebte Spaniens Diktator General Franco den Jakobskult neu und verknüpfte die Rolle des Heiligen im Kampf gegen die Mauren mit der Befreiung der Nation aus den Händen der Roten.
1982 besuchte Papst Johannes Paul II. Santiago de Compostela und forderte den alten Kontinent auf, seine Wurzeln neu zu entdecken. Als Spanien 1986 der EU beitrat, berief sich das Land auch auf die Tradition des Jakobswegs. 1987 erhob der Europarat den Hauptweg durch Südfrankreich und Nordspanien zur ersten Europäischen Kulturstraße.
Sankt-Jakobus-Gesellschaft
Im gleichen Jahr gründete sich die in Aachen ansässige Deutsche Sankt-Jakobus-Gesellschaft. Sie betreut nach eigenen Angaben über 30 Jakobswege in der Bundesrepublik. Manche sind grenzüberschreitend:
Einer führt von Krakau über Prag, Pilsen nach Nürnberg und Rothenburg und von dort weiter über die Schweiz oder Frankreich nach Spanien.
Ähnlich in Norddeutschland: Über die mit der Strahlenmuschel gekennzeichnete Via Scandinavia oder die Via Baltica sind auch Skandinavien und das Baltikum an das Netz der Pilgerwege angeschlossen. Auch im Rheinland finden sich viele Zeugnisse. Aachen und Köln waren Knotenpunkte für Spanien-Wallfahrer. Oft sind es alte Handels- oder Heerstraßen, die auch von Pilgern genutzt wurden.
Hape Kerkeling löste Boom aus
Seit den 1990er Jahren verzeichnet die Wallfahrtsleitung in dem nordspanischen Pilgerort immer neue Höchstwerte an Pilgern: 2018 erhielt eine Rekordzahl von fast 330.000 Menschen eine Pilger-Urkunde. Voraussetzung ist, durch die Stempel im Pilgerausweis nachweisen zu können, mindestens die letzten 100 Kilometer bis Santiago zu Fuß zurückgelegt oder die finalen 200 Kilometer mit dem Fahrrad absolviert zu haben. Auch in Deutschland erfreut sich der Weg durch Nordspanien wachsender Beliebtheit. Einen wahren Boom löste der Komiker Hape Kerkeling mit seinem 2006 erschienenen Buch "Ich bin dann mal weg - Meine Reise auf dem Jakobsweg" aus.
Hilfe und Beratung bietet die Deutsche St.-Jakobus-Gesellschaft: Ihr Ziel ist nämlich nicht nur die Ausweisung alter Jakobswege. Sie organisiert Pilgerreisen, beantwortet Anfragen und stellt "Credenciales" aus, die zur Unterkunft in den spanischen Pilgerherbergen berechtigen. Seit 1993 bildet die Gesellschaft zudem Freiwillige aus, die in Herbergen am spanischen Camino arbeiten. Auch eine deutschsprachige Pilgerseelsorge gibt es zwischen Mai und Oktober in Santiago.