DOMRADIO.DE: Wie wird dieser besondere Gedenktag denn ablaufen, am Ort dieses grauenhaften Geschehens von damals?
Manfred Deselaers (Priester und Auschwitz-Seelsorger): Es wird sehr viel Betrieb sein. Es sind ungefähr 3000 eingeladene Gäste, viele politische Delegationen vieler Länder, NGOs und andere Organisationen, die sich für Versöhnung engagieren. Unter anderem auch unser Zentrum für Dialog und Gebet. In Oswiecim, in dem Haus, in dem ich arbeite, werden ehemalige Häftlinge unterkommen. Das sind Menschen, die um die 90 Jahre alt sind und besondere Betreuung brauchen. Da freue ich mich schon, dass sie bei uns zu Gast sein können.

DOMRADIO.DE: Sie arbeiten als Seelsorger in der Bildungs- und Versöhnungsarbeit vor Ort. Sie werden die Häftlinge betreuen?
Deselaers: Nicht direkt. Die haben Betreuer und Familienangehörigen bei sich. Sie werden auch von der Gedenkstätte betreut. Ich begleite sie eher. Ich habe für die Gäste eine Abendmesse gehalten, ich esse mit ihnen zusammen. Das ist mehr so etwas wie eine seelsorgerische Begleitung.
DOMRADIO.DE: Die Überlebenden waren damals Kinder. Häufig werden sie wahrscheinlich nicht mehr an den Ort kommen. Ist das auch ein historischer Tag?
Deselaers: In meinem Gefühl gibt es einen Epochenwechsel. Die Zeit der direkten biografischen Betroffenheit geht zu Ende. Aber erstaunlicherweise schwindet damit nicht das Interesse an dem, was hier geschehen ist. Viel mehr wird deutlich, dass dieser Gedenkort auch eine Schule der Verantwortung für die Zukunft ist. Wir können hier viel lernen, um zu begreifen, wie unsere Verantwortung für die Zukunft aussieht.
Man sieht auch einen Wechsel vom Lokalen zum Internationalen. Die Erinnerung in Auschwitz hat eine Bedeutung in der ganzen Welt. Das ist hier sehr deutlich zu spüren.
DOMRADIO.DE: Wie wichtig ist es, angesichts des weltweit wieder erstarkenden Rechtsextremismus und Faschismus, dass wir immer wieder auch an Auschwitz erinnern?
Deselaers: Die Basisbotschaft ist, dass das tatsächlich geschehen ist, obwohl es unvorstellbar war. Es war möglich, also ist es möglich. Es beschreibt die Dimension unserer Verantwortung. Die Verantwortung besteht im Wesentlichen in unserem Menschenbild.
Damals war das rassistisch. Die Starken setzen sich durch, die Schwachen und angeblich Kranken müssen verschwinden und vernichtet werden. Das ist ein ganz anderes Menschenbild als das Christliche, in dem wir alle von Gott, unserem gemeinsamen Vater im Himmel oder Mutter im Himmel geliebte Kinder und Brüder und Schwestern sind und alle die gleiche Würde haben. Das ist ein wesentlicher Unterschied, der sehr deutlich wird. Die Verantwortung dafür, eine Welt aufzubauen, in der wir in gegenseitiger Achtung miteinander leben müssen, ist eine große Herausforderung. Es ist nicht leicht, aber sehr aktuell und wichtig.
Das Interview führte Tobias Fricke.