Auschwitz-Seelsorger hält Erinnerungskultur für dringend notwendig

"Es war möglich, also ist es möglich"

Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Seitdem ist die Gedenkstätte eine "Schule der Verantwortung für die Zukunft", sagt der deutschsprachige Seelsorger vor Ort, Manfred Deselaers.

Autor/in:
Tobias Fricke
Ex-Vernichtungslager Auschwitz (KNA)

DOMRADIO.DE: Wie wird dieser besondere Gedenktag denn ablaufen, am Ort dieses grauenhaften Geschehens von damals? 

Manfred Deselaers (Priester und Auschwitz-Seelsorger): Es wird sehr viel Betrieb sein. Es sind ungefähr 3000 eingeladene Gäste, viele politische Delegationen vieler Länder, NGOs und andere Organisationen, die sich für Versöhnung engagieren. Unter anderem auch unser Zentrum für Dialog und Gebet. In Oswiecim, in dem Haus, in dem ich arbeite, werden ehemalige Häftlinge unterkommen. Das sind Menschen, die um die 90 Jahre alt sind und besondere Betreuung brauchen. Da freue ich mich schon, dass sie bei uns zu Gast sein können. 

Manfred Deselaers, portraitiert für die Ausstellung "FriedensMensch" von Renovabis
 / © Achim Pohl (Ren)
Manfred Deselaers, portraitiert für die Ausstellung "FriedensMensch" von Renovabis / © Achim Pohl ( (Link ist extern)Ren )

DOMRADIO.DE: Sie arbeiten als Seelsorger in der Bildungs- und Versöhnungsarbeit vor Ort. Sie werden die Häftlinge betreuen?

Deselaers: Nicht direkt. Die haben Betreuer und Familienangehörigen bei sich. Sie werden auch von der Gedenkstätte betreut. Ich begleite sie eher. Ich habe für die Gäste eine Abendmesse gehalten, ich esse mit ihnen zusammen. Das ist mehr so etwas wie eine seelsorgerische Begleitung.

DOMRADIO.DE: Die Überlebenden waren damals Kinder. Häufig werden sie wahrscheinlich nicht mehr an den Ort kommen. Ist das auch ein historischer Tag?

Deselaers: In meinem Gefühl gibt es einen Epochenwechsel. Die Zeit der direkten biografischen Betroffenheit geht zu Ende. Aber erstaunlicherweise schwindet damit nicht das Interesse an dem, was hier geschehen ist. Viel mehr wird deutlich, dass dieser Gedenkort auch eine Schule der Verantwortung für die Zukunft ist. Wir können hier viel lernen, um zu begreifen, wie unsere Verantwortung für die Zukunft aussieht. 

Man sieht auch einen Wechsel vom Lokalen zum Internationalen. Die Erinnerung in Auschwitz hat eine Bedeutung in der ganzen Welt. Das ist hier sehr deutlich zu spüren.

Manfred Deselaers

"Es beschreibt die Dimension unserer Verantwortung."

DOMRADIO.DE: Wie wichtig ist es, angesichts des weltweit wieder erstarkenden Rechtsextremismus und Faschismus, dass wir immer wieder auch an Auschwitz erinnern? 

Deselaers: Die Basisbotschaft ist, dass das tatsächlich geschehen ist, obwohl es unvorstellbar war. Es war möglich, also ist es möglich. Es beschreibt die Dimension unserer Verantwortung. Die Verantwortung besteht im Wesentlichen in unserem Menschenbild. 

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Zum 80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung

Damals war das rassistisch. Die Starken setzen sich durch, die Schwachen und angeblich Kranken müssen verschwinden und vernichtet werden. Das ist ein ganz anderes Menschenbild als das Christliche, in dem wir alle von Gott, unserem gemeinsamen Vater im Himmel oder Mutter im Himmel geliebte Kinder und Brüder und Schwestern sind und alle die gleiche Würde haben. Das ist ein wesentlicher Unterschied, der sehr deutlich wird. Die Verantwortung dafür, eine Welt aufzubauen, in der wir in gegenseitiger Achtung miteinander leben müssen, ist eine große Herausforderung. Es ist nicht leicht, aber sehr aktuell und wichtig. 

Das Interview führte Tobias Fricke.

Auschwitz und der Holocaust-Gedenktag

Jeweils am 27. Januar wird weltweit der Opfer des Holocaust gedacht. Das Datum erinnert an die Befreiung der überlebenden Häftlinge des größten NS-Konzentrationslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen am 27. Januar 1945. Seit 1996 gedenken die Deutschen an diesem Tag der Millionen Opfer des Völkermords. Im November 2005 verabschiedete auch die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution, die den 27. Januar zum weltweiten Gedenktag macht.

Zaun in Auschwitz-Birkenau / © Markus Nowak (KNA)
Quelle:
DR

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